Teil I, II, III, IV, V, VI, VII, VIII, IX, X, XI, XII, XIII, XIV, XV, XVI, XVII, XVIII
Fast beanstandungslos konnten auf den vorangegangenen
Seiten Artikel und Bilder der Leipziger
Volkszeitung als frühe Zeugen für die Ereignisse des Herbst ´89 in
Oschatz angeführt werden. Damit aber in puncto Pressefreiheit bei jüngeren Besuchern der Webseite
kein falscher Eindruck entsteht, ist es unbedingt erforderlich, das Agieren
dieser Zeitung in einen größeren zeitlichen Kontext zu stellen und zu
erläutern. Faktisch war die LVZ bis Dezember 1989 das Propagandainstrument
der SED-Diktatur im Bezirk Leipzig! Durch nichts wird dies deutlicher
erkennbar, als durch jenen berühmt-berüchtigten Artikel am 06.10.1989 in der
LVZ von einem Leipziger Kampfgruppenkommandeur, der wenige Tage vor der legendären
und alles entscheidenden Demonstration vom 09. Oktober 1989 in Leipzig, den
Schußwaffengebrauch androhte, „um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig
und wirksam zu unterbinden.“ Seit November ´89 posaunte Egon Krenz, die
Partei (SED) habe „die Wende“ eingeleitet. Und wie gleich 3 der
eingestellten Artikel belegen, kam auch der Gebrauch des Wortes „Wende“
zunächst nur im Sinne einer Kurskorrektur innerhalb der SED vor - nicht etwa
als Synonym für die gerade stattfindende (Friedliche) Revolution.
Ab dem 05.12.1989 „wendete“ sich dieses (Zeitungs-)Blatt vom „Organ der
Bezirksleitung Leipzig der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ zum
„Organ für die Interessen des gesamten werktätigen Volkes“. Eckhard Thiem
© Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Martin Kupke
dürfen Teile aus der im Jahre 2000 erschienenen Dokumentation „Die Wende in
Oschatz“ hier wiedergegeben werden. Das Zeitungsartikel stammen aus dem Archiv
von Eckhard Thiem, Großböhla.
Friedensgebet am Montag, dem 27. November 89, 18 Uhr in der Aegidienkirche Zwischen Friedensgebet und Diskussionsrunde sagte ich: „Zum letzten Mal in diesem Jahr versammeln wir uns in der Aegidienkirche. Die heutige Zusammenkunft hat einen anderen Charakter als die bisherigen. Die Kirche soll heute nicht Klagemauer sein, sondern wir werden sagen, wie wir uns die Aufbauarbeit im Lande und in Oschatz vorstellen. Wenn es im nächsten Jahr freie Wahlen geben soll, müssen wir wissen, welche Programme und welche Personen zu wählen sind. Diese Programme sind zu erarbeiten. In den Schulen ist von Erneuerung noch nicht viel zu sehen, bei der NVA auch nicht. In manchen Betrieben ist es noch ziemlich still. Die Staatssicherheit arbeitet noch immer und die Kampfgruppen gibt es auch noch. Die Wirtschaftslage ist katastrophal und von fehlenden ethischen und moralischen Werten will ich gar nicht erst reden. Es gilt daher, mit allen Gruppen der Bevölkerung eine gewaltige Aufbauarbeit zu leisten. Ich bitte jetzt, Ihre Pläne und Absichten vorzutragen, die Sie für die nächsten Monate haben.“ Herr Kupfer, CDU: „Ich stelle mir eine Konföderation beider deutscher Staaten in den heutigen Grenzen vor. Wir brauchen eine neue Verfassung und neue Gesetze. Die CDU ist gegen die führende Rolle einer Partei und für allgemeine, freie und geheime Wahlen. Sie wird eine Vorschlagskommission bilden.“ Herr Bruno Leib: „Die Arbeit der örtlichen Organe ist zu kontrollieren. Wir wollen Einblick in alle Entscheidungsfindungen bekommen.“ Herr Rudolf Thomas, Laas: „Wo bleibt die SED, die uns aus dem Dreck ziehen wollte? Es ist beschämend, dass die Herren von damals nicht wieder hierher gekommen sind.“ Herr Johannes Rudolph, Laas: „Wir erwarten, dass uns einer sagt, wie es weitergeht. Aber das ist falsch. Wir müssen uns unsere eigenen Gedanken machen.“ Herr Peter Kallwack: „Nach wie vor gibt es privilegierte Ärzte und privilegierte medizinische Angestellte, aber das technische Personal wird vergessen. Jede Arbeit solltegleich geachtet werden.“ Herr Werner Plath, LDPD: „Es ist bedauerlich, dass wir heute das letzte Mal in dieser Runde zusammenkommen. Wir Parteien wollen die Diskussion fortsetzen. Es ist schlimm, wenn wir aufhören zu reden. Es soll weitergehen. Wir schlagen vor: im Kino. Die LDPD übernimmt für das erste Mal die Verantwortung.“ Herr Münkner, NF: „Für Oschatz sollten die Umweltdaten veröffentlicht werden. Der Kirche danke ich. Die Aegidienkirche ist für uns ein Zufluchtsort und ein Ort, an dem wir mündig werden. Ich schlage vor: Eine Mahnwache am Gebäude der Stasi und eine Menschenkette am 1. Advent an der F 6.“ Pfarrer Heinrich, Lampertswalde: „Es muss mit den Friedensgebeten weitergehen. In den Dörfern halten wir jeden Donnerstag 18 Uhr das Friedensgebet. Die bevorstehenden Wahlen müssen auch vorbereitet werden.” Herr Bajewsky, LVZ: „Wir bleiben an den Umweltdaten dran.“ Herr Jörg Schmücker, SED, Berufssoldat: „Wir wollten das Richtige tun, aber wer wusste schon, was das Richtige war? Ich hatte überzeugte Eltern, die mir beibrachten: Die Politik der SED ist immer richtig. Nun bricht vieles zusammen. Neues muss wachsen. Ich bitte um eine Chance. Bei der NVA ist es mit der führenden Rolle der SED vorbei. Die Reisefreiheit gilt auch für uns. Die Politabteilung ist bei der NVA aufgelöst worden.“ Herr Rangoschinsky: „Die SED hat ihre Chance verspielt, die Straße bleibt weiterhin aktuell, Schuldige müssen bestraft werden, die Kampfgruppen sind aufzulösen.“ Herr Dirk Heinrich, NF: „Die bisherige Subventionspolitik muss neu durchdacht werden.“ Herr Friedmar Freund: „Ich freue mich über das kirchliche Engagement, über die Artikel in der Zeitung. Aber was hat sich wirklich geändert? Ich fordere den Abtritt der Wendehälse!“ Frau Claudia Strieter: „Die Lehrer sagten bisher: Der Sozialismus ist das Beste. Und nun? Wie stehen sie jetzt dazu? Niemand erklärt uns, warum es nun plötzlich diesen Wechsel gibt.“ Zum Abschluss des Abends sagte ich: „Wir werden als Christen dieses Landes die Gebete für Frieden und Neuanfang in unseren Gottesdiensten fortsetzen. Zu diesen Gottesdiensten möchte ich weiterhin einladen. Wir werden uns in der Kirche auch zukünftig für Himmel und Erde einsetzen, weil für unser Leben beides wichtig ist. Wenn wir irgendwo kürzen, beim Himmel oder bei der Erde, führt dies zur Verarmung unseres Lebens. Das haben wir in den vergangenen Jahrzehnten erfahren. Wir wollen als Kirche dazu beitragen, dass wir aus der inneren und äußeren Verarmung herauskommen. Zum Glücklichsein brauchen wir zwar nicht unbedingt ein Wirtschaftswunder, aber wir brauchen innere und äußere Verhältnisse, in denen wir uns als Menschen wohlfühlen. Wie geht es nun bei uns weiter? Wir laden alle Interessierten für Montag, d. 8. Januar 1990, 18 Uhr in die Klosterkirche ein. Wir wollen uns in Arbeitsgruppen versammeln, die überlegen, was weiter zu tun ist. Zunächst aber kommt die Adventszeit, in der wir zur Ruhe und Besinnung kommen können. Diese Zeit kann damit auch zur Bereicherung unseres Lebens beitragen.“ Am Schluss kam dann noch eine organisatorische Ansage zur anschließenden Demonstration.
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