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Gerhard Heinz, langjähriges Vorstandsmitglied des Oschatzer Geschichts- und Heimatverein e.V. schrieb den folgenden Beitrag in dem Buch „Grenzfluß Mulde“, herausgegeben von Adolf Böhm, erschienen im Sax-Verlag, der freundlicherweise der Veröffentlichung bei Oschatz-damals zugestimmt hat.


In den Tagen des totalen Zusammenbruchs des NS-Regimes schrieb der Verwaltungs-Oberinspektor des Rates der Stadt, Walther Blumenschein, die folgenden Sätze in das schwarz-gelbe Stadtbuch von Oschatz: „In banger Sorge um die Zukunft lebte Oschatz in der zweiten Hälfte des Monat April 1945. Es sollte verteidigt werden. Von Osten und Westen rückte der Feind immer näher an die Stadt heran. Panzersperren waren in allen Stadteingängen errichtet, die Brücken zur Sprengung vorbereitet, und es war angekündigt, dass bei Annäherung feindlicher Truppen Panzeralarm gegeben würde. Obwohl der Kreisleiter Albrecht in Ansprachen die Bevölkerung zum Durchhalten aufforderte und es ablehnte, Oschatz als freie Stadt zu erklären, war es der Einwohnerschaft klar, dass die Verteidigung der Stadt sinnlos sei und nur deren Zerstörung zur Folge haben würde.“
In Ausführung eines Führerbefehls begannen in Oschatz Anfang April 1945 umfangreiche Vorbereitungen zur militärischen Befestigung der Stadt. NSDAP-Kreisleiter Albrecht hatte am 31. März dem Beigeordneten Wolf seinen Bürgermeisterposten übergeben, um sich ganz dem „Endkampf“ zu widmen. Am 12. April wurden durch dessen Anordnung die Städte Oschatz, Dahlen, Strehla und Mügeln zu Kampffestungen, bzw. Kampfgebieten erklärt. In Oschatz errichteten Wehrmachtsangehörige des Bau-Ersatz-Bataillons Barrikaden und Panzersperren an den Stadteingängen und hoben Stellungen und Schützengräben aus.
Sämtliche Döllnitzbrücken und das Weinberggelände wurden vermint und zur Sprengung vorbereitet. Die noch in der Stadt stationierten Wehrmachtseinheiten, einschließlich des Fliegerhorstes, versetzte man in Gefechtsbereitschaft. Auch die Volkssturmformation wurde mobilisiert und im Stützpunkt Bürgerschule zusammengetrommelt. Den Ernst der Lage bekamen die Oschatzer Bürger am 15. April deutlich zu spüren. An diesem Sonntag wurden sie aufgefordert, sich in dafür vorgesehenen Geschäften für drei Wochen mit einer begrenzten Lebensmittelration zu bevorraten.
Tieffliegerangriffe über dem Kreisgebiet erhöhten die Sorge, dass Oschatz auch bald in Trümmerfeld würde. Am 17. April wurden auf Befehl des Kampfkommandanten die Barrikaden und Panzersperren geschlossen und weitere in der inneren Stadt errichtet. Ferner Geschützdonner und die Nachricht vom Vorrücken der Amerikaner bis zur Mulde zwischen Colditz und Eilenburg verschärften die Unruhe und kündeten vom unmittelbaren Herannahen der Kriegshandlungen.
In diesen schicksalshaften Tagen stellten sich Bürger den Wahnsinnsplänen der totalen Verteidigung der Stadt entgegen. Durch ihr mutiges Wirken wurden die Stadt und die Bevölkerung in den letzten Apriltagen von einer schlimmen Katastrophe und sinnlosen Zerstörung bewahrt,
Eine Reihe stadtbekannter Bürger, Ärzte, Geistliche, Geschäftsleute, Handwerker und Gewerbetreibende hatten sich seit Sommer 1944 unter dem Dach der evangelischen Kirche um Superintendent Johannes Ludwig zusammengefunden. Nach den Ereignissen des 20. Juli 1944 war ihr Gedankenaustausch auf die Möglichkeit zur Beseitigung des NS-Wahnsinns gerichtet. Auch zu Wehrmachtsangehörigen der Oschatzer Garnison, u.a. zu Offizieren des Fliegerhorstes, bestanden Kontakte. Ende 1944 war zu diesem Kreis auch Landrat Dr. Haupt hinzugekommen. Unter dem Eindruck des nahen Kriegsendes traten diese Bürger, um sinnlose Zerstörungen zu verhindern, ab Mitte April offen den Ansichten der NS-Kreisleitung entgegen.
In ständiger Fühlungnahme mit Superintendent Ludwig, Fabrikant A. Höppner, Dr. med. Deschler und anderen Vertrauenspersonen legte Landrat Dt. Haupt in Lagebesprechungen beim Kampfkommandanten diese Bedenken dar. Er wurde dabei von seinem Stellvertreter, Reg.-Inspektor Max Fischer und dem Angestellten des Landratsamtes, Carl Jentzsch, maßgeblich unterstützt. In den folgenden Tagen forderten sie die NS-Führung mehrfach zur Rücknahme der Verteidigungspläne auf. Das brachte sie in einen immer schrofferen Gegensatz zum Kreisleiter Albrecht. Letztlich wurde ihnen mit Standgericht gedroht.
Trotzdem trafen sie einige bedeutsame Gegenmaßnahmen. So setzten sie die Auflösung des Heeresprovisionsamtes und mehrere Ausweichlager im Kreis Oschatz bei der NS-Kreisleitung und den militärischen Stellen durch. Dadurch konnte eine Einlagerung in zahlreichen kleineren Geschäften vorgenommen und die Verteilung ausreichender Mangen Lebensmittel an die Bevölkerung erreicht werden.
Dem Angestellten Carl Jentzsch gelang in Absprache mit dem Landrat Haupt bereits am 16. April eine mutige Aktion. Er hatte einige Angehörige des Brückensprengkommandos durch die Abgabe von Zivilkleidung und Zigaretten veranlassen können, die in den Oschatzer Brücken eingebauten Sprengladungen durch Unterbrechung der Zündkabel unschädlich zu machen.
In den folgenden Tagen überstürzten sich die Ereignisse. Nachdem in  den Abendstunden des 22. April bei Kreinitz ein Stoßtrupp Russen die Elbe überquert hatte, besetzte in der Nacht eine nachfolgende Kavallerieeinheit nach Kampfhandlugen Görzig und Trebnitz. Von diesem Brückenkopf aus begannen die Russen am 23. April nach dem Durchzug von Leckwitz, Sahlassan, Zaußwitz und Canitz mit der Einschließung der Städte Strehla und Riesa, die am 2. April besetzt wurden. Die Kunde vom Vorstoß der Russen über die Elbe versetzte die Oschatzer Bevölkerung in große Aufregung. Sämtliche Verbindungen nach Strehla waren unterbrochen.
Höhepunkt der sich überstürzenden Ereignisse war in Laufe des 23. April der rasche Abmarsch der noch in Oschatz stationierten Wehrmachtseinheiten und des Fliegerhorstes in Richtung Döbeln und Freiberg zur Heeresgrupppe Mitte. Ein geordneter Rückzug war es nicht mehr. Ein größerer Teil der Wehrmachtsangehörigen setzte sich nach Westen ab, um in amerikanische Gefangenschaft zu geraten.
Im Stadtbuch kann man nachlesen: „Die Verteidiger verließen Hals über Kopf Oschatz.“ Nur ein kleines Restkommando vom Bau-Erstatz-Bataillon verblieb noch in der Stadt. Oschatz war faktisch ohne Militär. Hinzu kam, dass sich kurz danach auch Teile der Polizei absetzten. In dieser Situation erneuerte die Bürgergruppe in Person von Landrat Dr. Haupt die Forderung zur kampflosen übergabe der Stadt. Barsche Ablehnung und Erschießungsandrohungen waren die Antwort.
Am Nachmittag dieses 23. April entschieden sich Superintendent Ludwig und Landrat Dr. Haupt nach Kontaktaufnahme mit anderen Bürgern zu einer auergewöhnlichen Aktion. Unter Mitwirkung von christlich gesinnten Bürgen und Geschäftsleuten organisierten sie am Abend eine hauptsächlich von Frauen besuchte Kundgebung auf dem Neumarkt. Auf ihr wurde mit Nachdruck die Forderung erhoben, Oschatz als freie Stadt zu erklären und kampflos zu übergeben. Dem anwesenden Stadtkommandanten gelang es mit beschwichtigenden Worten und einer faustdicken Lüge vom angeblichen Zurückdrängen der Russen über sie Elbe und der Amerikaner über die Mulde, noch einmal die aufgebrachten Oschatzer zu beruhigen. Es war ein plumpes Täuschungsmanöver. Die Organisatoren hatten aber ihr Ziel erreicht, verstärkten öffentlichen Druck auf Albrecht und sein letztes Aufgebot auszuüben.
Die Antwort des NS-Kreisleitung folgte noch in der Nacht zum 24. April. Gegen 3.00 Uhr wurde Feindalarm ausgelöst. und über Lautsprecher der irrsinnige Befehl bekanntgegeben, dass „Frauen und Kinder die Stadt sofort zu verlassen haben“.
Eine Panik brach aus. In wilder Hast verließen im Laufe des

 

Tages verängstigte Frauen mit Kindern und ältere Bürger – das Nötigste auf Handwagen verladen – die Stadt und verbrachten die nächsten Tage in der Umgebung, zum Teil in Wäldern um Collm und Wermsdorf.
Carl Jentzsch gelang es in diesen Tagen, das Restkommando des Bau-Ersatz-Bataillons, Oberfeldwebel Sangkuhl, zur endgültigen Beseitigung der in den Döllnitzbrücken eingebauten Sprengkörper zu bewegen.
Am Nachmittag des 25. April, gegen 16.00 Uhr, stieß eine amerikanische Patrouille (unter Major Craig – Anm. d. Hrsg.) von Merkwitz kommend, bis an die Stadtgrenze vor. An der Panzersperre machten sie aber kehrt und fuhr nach Strehla weiter.
Landrat Dr. Haupt fuhr mit anderen Personen, u.a. mit Höppner, spätabend nach Wermsdorf. Das Ergebnis dieser Verhandlungen mit kompetenten amerikanischen Offizieren lautete: „Besetzung der Stadt  Oschatz durch amerikanisches Militär wahrscheinlich, wenn sich die Stadt kampflos ergibt und weiße Fahnen zeigt. Die Panzersperren müssen entfernt werden.“
Erneut unternahm der Landrat einen Vorstoß, um den NS-Kreisleiter zur Aufgabe zu veranlassen. Doch dieser begab sich am Morgen des 26. April mit einigen schwerbewaffneten Leuten erneut in die Stellung am Ortseingang Leipziger Straße, um sich herannahenden Amerikanern entgegenzustellen.
Die Bürgergruppe war sich nach Beratungen am Vormittag dieses Tages einig, nur ein großer öffentlicher Druck in Form einer erneuten Demonstration kann Albrecht und seine bewaffneten NS-Fanatiker zum Rückzug zwingen. Gegen Mittag versammelten sich wiederum über 200 Frauen vor dem Rathaus. Da sie keinen Verantwortlichen antrafen, zogen sie zum Sitz der NS-Kreisleitung und des Stadtkommandanten, zum „Weißen Roß“ am Altmarkt.
Immer mehr Bürger schlossen sich an.  Die Ehefrauen von Superintendent Ludwig, Kaufmann Schmidt und Haschke sowie vom Tischlermeister Petrich wurden beauftragt, dem Kommandanten die Forderungen  zur sofortigen Einstellung der Kampfmaßnahmen vorzutragen. Die Abordnung wurde von einem Offizier in Empfang genommen. Dieser erklärte, es sei unmöglich, Oschatz zur freien Stadt zu erklären. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung, bei der Frau Petrich erklärte, Wermsdorf und Wurzen wären auch kampflos an die Amerikaner übergeben worden. Hierauf erwiderte der Offizier: „Dafür werden wir den Bürgermeister von Wurzen noch zur Rechenschaft ziehen“. „Wenn Sie noch dazu kommen“ gab Frau Petrich schlagfertig zur Antwort. Über diese Bemerkung war der Offizier so sprachlos, dass er den Frauen den Weg zum Kampfkommandanten freigab.
Von der Sekretärin und der anwesenden Frauenschaftsführerin, Schwester Römer, wurden sie mit zynischen Reden, wie „macht kein Theater! Denkt und handelt wie Deutsche! Auf ein paar mehr oder weniger Trümmer kommt es auch nicht mehr an“, beschimpft. Doch der Kommandant nahm die Forderungen der Frauen entgegen und versprach, sie dem NS-Kreisleiter vorzutragen und danach eine Antwort zu überbringen. So geschah es am Abend auch.
Zur gleichen Zeit hatte sich der Oschatzer Volkssturm durch das Einwirken mutiger Oschatzer Bürger von selbst aufgelöst. Inzwischen hatte der Kreisleiter Kenntnis von den laufenden Verhandlungen des Landrates mit den Amerikanern erhalten. Zwar drohte er an diesem Abend noch mehreren Personen mit Erschießung, doch unter dem Druck der Öffentlichkeit schienen Albrecht und seine wenigen Durchhaltefanatiker die Nutzlosigkeit ihrer Handlungen begriffen zu haben.
Die sogenannten Verteidigungsnahmen wurden eingestellt. Eine letzte Drohung stieß Albrecht gegen Mitternacht noch über Telefon an den Landrat aus. Dem diensthabenden Beamten Fischer teilte er mit, dass den Kampfkommandanten beauftragt habe, „die Bude von Verrätern auszuräuchern und samt Landrat umzulegen.“ Unmittelbar danach setzte er sich mit dem Kampfkommandanten und dem Rest der Polizei von Oschatz ab. Albrecht ist kurze Zeit später bei Zehren mit dem Auto tödlich verunglückt.
Oschatz war freie Stadt. Nach erhalt der Nachricht begab sich Landrat Haupt mit Dr. Deschler am 27. April gegen 1.00 Uhr sofort nach Wermsdorf. Fischer übernahm die Vertretung und stellte sofort Verbindung zu anderen Persönlichkeiten her. Auch der amtierende Bürgermeister Wolf gab seine Zustimmung zur sofortigen Beseitigung der Panzersperren und baldigen Übergabe der Stadt an die Amerikaner. Morgens 4.00 Uhr begann die Aktion zur Beseitigung aller Barrikaden und Panzersperren, an der sich die Bevölkerung aktiv beteiligte. Im Laufe des Vormittags wurden überall weiße Fahnen gehisst.
Gegen Mittag fuhren in Jeeps und Panzerwagen vom Wermsdorf kommend, etwa 30 amerikanische Militärangehörige in die Stadt ein.  Begleitet von Fischer und Dolmetscher Dr. Dreschler begaben sie sich zum Rathaus, wo die Übergabe der Stadt Oschatz ohne Zwischenfälle erfolgte. Noch am gleichen Tag erließen die Amerikaner Anordnungen zur Abgabe aller Waffen und Fotoapparate. Auch eine Ausgangssperre für die Zivilbevölkerung von 18.00 Uhr abends bis 6.00 Uhr morgens wurde verkündet. Ehemaligen Gefangenen und nach hier verbrachten Zwangsarbeitern, zumeist polnischer Nationalität, wurde vom amerikanischen Militärkommando die Polizeigewalt in der Wache im Rathaus übertragen. Das amerikanische Kommando selbst blieb nicht in Oschatz. Es fuhr täglich nach Wermsdorf und zurück.
In den folgenden Tagen nahmen die Amerikaner in verschiedenen Läden und Lagern Requisitionen vor. Während dieser Zeit bis zum 8. Mai ruhte der Geschäftsbetrieb im Rathaus völlig. Nur das Landratsamt setzte seine Tätigkeit fort. Am Auftrage der amerikanischen Besatzungsmacht wurden Maßnahmen zur Versorgung der durchziehenden Ausländer und KZ-Häftlinge mit Kleidung und Lebensmittel ausgeführt; Das Geschäftsleben kam vollständig zum Erliegen. Im Proviantamt und in Lagern kam es zu Plünderungen und Schießereien, an denen sich auch die eingesetzte provisorische Polizei beteiligte. Läden und Häuser blieben in diesen Tagen, aus Angst vor Raub und überfällen, eschlossen.
Am Nachmittag des 5. Mai begann im Zuge der sogenannten Prager Operation der Einmarsch der Russen in Oschatz. Stundenlang bis zum nächsten Morgen rollten ununterbrochen Panzerkolonnen aus dem Raum Torgau durch Oschatz nach Süden, dem Erzgebirge zu, um die dort noch operierende Heeresgruppe Mitte zu zerschlagen. Dabei wurde Oschatz von den Russen besetzt. Am 8. Mai wurde der russische Major Petrosjan erster Stadtkommandant der neuen Besatzungsmacht.
Noch am gleichen Tag wurde der Geschäftsbetrieb im Rathaus wieder aufgenommen und der parteilose Eichinspektor Kurt Leistner als Bürgermeister und der Student Günter Sczostak als sein Sekretär eingesetzt. Den Beamten und Angestellten der Stadtverwaltung wurde befohlen, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Dieser Befehl des russischen Stadtkommandanten änderte sich aber zwei Tage später.
Am 10. Mai beauftragte der Kommandant Petrosjan die Kommunisten Johann Reinhard und Max Schröter mit der Bildung eines antifaschistischen Stadtausschusses, bestehend aus Kommunisten, Sozialdemokraten und antifaschistischen bürgerlichen Fachleuten. Diese bildeten einen neuen Stadtrat.

 


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