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Kleinforster erzählen ihre Geschichte

Rudolf Tischer
Meine Kindheit in Kleinforst

ich denke oft an meine Kindheit in Kleinforst zurück. Meine Eltern wohnten in einem alten Haus, das mein Vater von seinen Eltern geerbt hatte. Es war weiß angestrichen, etwas größer als die Nachbarhäuser und hatte zwei Stockwerke. Die zwei separaten Wohnungen im Hause erreichte man über einen Haupteingang vom Hof aus. Es gab im Haus keinen elektrischen Anschluss, kein Wasser, wir hatten auch keinen eigenen Brunnen.
Abort befand sich in einem Nebengebäude. Der Gang über den Hof dorthin war im Winter bei Eis und Schnee nicht gerade verlockend und in der warmen Jahreszeit stank es entsetzlich aus der Grube.
Unsere gesamte Familie bestand aus sechs Personen. Als ich 1920 zur Welt kam, hatten meine Eltern bereits drei Mädchen. Mein Vater war deshalb sehr glücklich, als ich geboren wurde. Er hatte nun endlich einen Jungen in der Familie. Ich war das letzte Kind von Alma und Paul Tischer.
Unser Haus hatte drei Schlafräume. Zuerst schlief ich bei meinen Eltern, später teilte ich mir einen Schlafraum mit meiner jüngsten Schwester.
Wir hatten auch ein Wohnzimmer, das wir aber fast nie benutzten. Gewöhnlich spielte sich alles in der Küche ab. Es war nur ein kleiner Raum, in der Mitte stand ein hölzerner Tisch, an dem wir alle Mahlzeiten einnahmen. An diesem Tisch erledigte ich auch meine Hausaufgaben und oftmals bereiteten zur gleichen Zeit meine Mutter oder meine Schwestern das Essen darauf zu.
Obwohl unser Anwesen kein Bauerngrundstück war, hatten wir trotzdem Vieh und bauten Nahrungsmittel für den eigenen Bedarf an. Viele Jahre lang hatten wir Schweine, Gänse, Ziegen, Enten, Schafe und Hühner. Wir hatten auch einen Hund und selbstverständlich auch Katzen, die die Mäuse und Ratten im Stall und im Haus wegfangen sollten.
Unser Haus lag auf einer Anhöhe mit einem schönen Ausblick auf das Döllnitztal. Auf den Wiesen grasten oft Kühe, Schafe und Pferde. Die Kleinbahn fuhr täglich an Kleinforst vorbei und verband viele Dörfer in der Oschatzer Umgebung miteinander. Durch das Tal schlängelte sich ein kleiner Bach, die Döllnitz. Wenn diese im Winter über die Ufer trat, wurde aus dem Tal ein gefrorener See. Wenn dann im Frühjahr das Eis taute, gab es oft Hochwasser.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tales lag eine Rosenplantage. Wenn die Rosen in voller Blüte standen, sah die Anhöhe aus wie ein Kunstgemälde, mit roten, pinkfarbenen und weißen Punkten auf grünem Hintergrund. Am Horizont sah man die Umrisse der Oschatzer Häuser und Fabriken mit ihren unterschiedlichen Höhen. Über allem ragte die Kirche mit ihren zwei Türmen heraus, sie war das höchste Bauwerk der Stadt.
Wir hatten unsere eigene kleine Kirche in Altoschatz. Dort fanden sich die Leute zum Gebet zusammen, dort erfuhr man aber auch, wer geboren wurde, wer gestorben war und wer sich verheiratet hatte. Auch meine Schwestern und ich wurden in der Altoschatzer Kirche getauft und konfirmiert.
Unsere Familie konnte nicht regelmäßig an den Gottesdiensten teilnehmen. Es war aber immer ein großes Ereignis für uns, an Festtagen in die Kirche zu gehen. Zu diesem Anlass zogen wir immer unsere besten Kleider an.
Die Stadt Oschatz lag nur wenige Kilometer von Kleinforst entfernt und viele Leute von hier gingen dort einer Arbeit nach. Es gab aber auch Leute, die auf einigen größeren Bauerngütern in der Umgebung beschäftigt waren.
Mein Vater arbeitete in Oschatz bei der Firma Marthaus, einer der größten Arbeitgeber in der Stadt. Er hatte große Mengen des Rohmaterials für die Herstellung von Filzschuhen zu transportieren und die Fertigware von der Fabrik zur Bahnstation zu fahren. Damals hatten die Fabriken noch keine Lastkraftwagen, also benutzten sie zum Transport Fuhrwerke, die von Pferden gezogen wurden. Die Pflege und Versorgung dieser Pferde gehörte mit zur Arbeit meines Vaters. An sie habe ich die schönsten Kindheitserinnerungen. Jedes Wochenende gingen mein Vater und ich Hand in Hand zu den Ställen. Mein Vater war groß, schlank und ruhig. Ich fühlte mich immer so klein, wenn ich neben ihm ging. Im Stall setzte er mich auf eine Bank und ich sah ihm gern zu beim Füttern, bei der Pflege der Pferde und beim Ausmisten des Stalles. Ich höre in meiner Erinnerung noch heute, wie sie ihr Futter fraßen. Es war ein eigenartiges Geräusch, wenn sie mit ihren Zähnen das Futter zermalmten und zerkauten.
Mein Vater ließ mich im Stall immer kleine Dinge erledigen. Er wollte mir das Gefühl geben, dass ich ihm eine große Hilfe bei der Arbeit bin. Ich weiß aber heute, dass er mich dazu gar nicht brauchte und er ließ mich nur arbeiten, weil ich Freude daran hatte.
An Sonntagen nahm mich mein Vater auch manchmal zur großen Bahnstation nach Oschatz mit. Wir saßen dort stundenlang und beobachteten das Kommen und Gehen der Züge. Damals waren die Eisenbahnen immer noch eine relativ neue Erscheinung. Es war auch neu, dass Menschen in so großer Zahl verreisten und so große Strecken zurücklegen konnten.
Mir als Kind erschienen die Lokomotiven unheimlich groß. Ich war fasziniert von den riesigen Stahlrädern, die viel größer waren als ich selbst. Nicht alle Züge hielten in Oschatz. Schnellzüge fuhren mit solcher Geschwindigkeit durch, dass der Erdboden erzitterte. Es war, als wenn ein riesiges Ungeheuer an uns vorbeiraste. Wir wollten so nahe wie möglich an den Gleisen stehen und klammerten uns fest an den kleinen Zaun, der uns von der Bahnstrecke trennte. Unter unseren Füßen bebte der Erdboden und die Haut in unseren Gesichter verzog sich durch den gewaltigen Luftzug. Dann verschwand die Bahn aus unseren Augen und es war eine unheimliche Stille in unseren Ohren.
Wenn die Züge am Bahnhof hielten, verbrachte ich viel Zeit damit, die riesigen Dampfrösser und das Bedienungspersonal zu beobachten. Der Lokführer stieg von der Lokomotive herunter und ging um diese herum. Er hatte eine große Ölkanne in der Hand, mit der er die Lager schmierte. Er trug eine Uniform und eine kleine runde Mütze. Beides war so mit Öl verdreckt, dass man das Gewebe beinahe nicht mehr erkennen konnte. Sogar sein Gesicht und die Arme waren mit Öl verschmiert. Ich war beeindruckt, er sah so wichtig und imposant aus!
Als der Lokführer mit seiner Arbeit fertig war, setzte er das Ungeheuer wieder in Bewegung. Das war mit vielen Geräuschen verbunden. Beim Abfahren des Zuges quietschten die Räder auf den Gleisen und mit zunehmender Geschwindigkeit wurde das Quietschen durch ein rhythmisches metallisches Geräusch abgelöst, das sich allmählich in der Ferne verlor.
Ich war so fasziniert, dass ich mich entschied, später einmal Lokführer zu werden. Aber dann begriff ich sehr schnell, dass der Lokführer auch eine enorm große Verantwortung für das Leben der Reisenden im Zug hat. Man sagte mir auch, dass der Beruf eines Lokführers eine höhere Schulbildung erfordern würde und dass man dafür viel Geld braucht. Und ich wusste, dass das meine Familie nicht hatte.
Leider konnte mein Vater nicht mehr erleben, dass sich mein Traum später doch noch erfüllte. Ich wurde Ingenieur - wenn auch kein Lokführer!
Als ich 8 Jahre alt war, starb mein Vater. Meine Mutter musste noch härter arbeiten, um unsere Familie satt zu bekommen. Sie half auf dem nahe gelegenen Berggut im Haushalt, machte sauber und wusch die Wäsche.
Glücklicherweise war unser Haus so groß, dass wir noch eine zweite Familie aufnehmen konnten. Durch die Mieteinnahmen hatten wir noch ein zusätzliches Einkommen. Damals zog die Familie Wendisch bei uns ein. Sie hatten eine Tochter und den Sohn Willi. Max Wendisch, der Vater, arbeitete in einer Fabrik in Oschatz. Er brachte mir bei, wie man Feuerholz schneidet und spaltet. Er war immer hilfsbereit und half uns bei den Arbeiten, die rund um das Haus zu erledigen waren. So bestand ein herzliches Verhältnis zwischen uns und den neuen Mietern.
Als meine Schwestern von zu Hause ausgezogen waren, sah meine Mutter in dem freigewordenen Schlafraum eine Gelegenheit, Pflegekinder aufzunehmen. Dadurch konnte sie auch noch zusätzlich etwas Geld verdienen und während sie auf Arbeit war, sollte ich mit der Betreuung der Pflegekinder eine sinnvolle Beschäftigung haben.
Eines der Kinder, das meine Mutter annahm, war weniger als ein Jahr alt. Wenn ich irgendwohin gehen wollte, hatte ich es immer im Kinderwagen mitzunehmen. Das war eine große Erniedrigung für mich. Die anderen Jungen in der Siedlung verhöhnten mich, weil ich den Kinderwagen schieben musste. Und es kam noch schlimmer, ich musste auch noch die stinkenden Windeln von dem Kleinen wechseln!
Ich entschied mich aber, meine Verpflichtungen zu erfüllen und versuchte, alles mit Humor zu ertragen. Trotz der Hänselei wollte ich das Kind auch weiterhin in den Kinderwagen legen und mit meinen Freunden spielen gehen.
Manchmal stellte sich jedoch heraus, dass diese Ausfahrten für das Baby gar nicht so ungefährlich waren. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit meinen Freunden auf der Straße mit dem Ball spielte. Wir waren auf dem unteren Ende der Straße, wo der Abhang zur Aue hinunterführt. Ich hatte das Baby mit dem Kinderwagen an der Straßenseite abgestellt. Das Baby hatte sich dort während unseres Spieles scheinbar heftig bewegt und der Wagen kam dadurch ins Rollen. Wir nahmen davon erst Notiz, als es schon zu spät war. Wir sahen den Wagen nur noch den Hang hinunterrollen und in ein Kornfeld hineinfahren. Dort kippte er um und das Baby flog im hohen Bogen durch die Luft. Wir rannten sofort hin und fanden zuerst nur ein kleines Kopfkissen. Dann hörten wir irgendwo etwas schreien und fanden auch das Baby. Was für ein Glück - es war auf einem weichen Fleck im Kornfeld gelandet. Es hatte nichts gebrochen und keine Schramme davongetragen. Aber es schrie wie am Spieße. Es hatte keine Verletzungen, es war nur furchtbar erschrocken. Und bald konnten wir wieder zurückgehen und weiter mit dem Ball spielen.
Ein anderes Mal nahm ich das Baby mit auf ein Feld, wo wir Fußball spielten. Wir schossen den Ball hin und her und ein unplatzierter Ball traf das Baby beinahe am Kopf. Diesmal hätte es wirklich ernsthaft verletzt werden können, da der Ball sehr scharf geschossen wurde. Zum Glück traf er aber nur den Kinderwagen an der Seite und ich konnte gerade noch verhindern, dass er umstürzte.
Eines meiner Erlebnisse mit den Pflegekindern ist besonders lustig, obgleich es mir damals gar nicht zum Lachen war.
Eines Tages kam ich von der Schule nach Hause. Meine Mutter erzählte mir, dass sie Helmut, das war ein neues Pflegekind, für ein Schläfchen in mein Bett gelegt hätte. Das sollte ich wissen, damit ich ihn nicht beim Schlafen störe. Helmut war ungefähr zwei Jahre alt und natürlich war ich neugierig, was er da in meinem Bett macht. So sah ich immer wieder nach ihm, so oft es ging. Durch die Verdunkelung war es in dem Raum sehr dunkel. Immer wieder kontrollierte ich, ob er noch schläft. Nach mehreren Stunden hörte ich ihn endlich sprechen. Ich lief zu ihm hin und sah, dass er oben auf der Bettdecke saß. Ich konnte gerade so sein Gesicht sehen, es sah ganz seltsam aus. Ich ging auf ihn zu, legte meine Hände auf die Pfosten vom Betthaupt, beugte mich über ihn und sagte: „Helmut, wie schön, dass du munter bist“. Und dann merkte ich, dass da etwas an dem Bettpfosten war und an meiner Hand. Und tatsächlich, es war überall etwas davon, auch in seinem Gesicht. Deshalb sah er auch so unheimlich aus. Er hatte sich eingemacht und damit gespielt.
Damals wusste ich, ich wollte nie wieder Babys betreuen, nie wieder!

Trotz des frühen Verlustes meines Vaters und trotz der Pflegekinder, die ich betreuen musste, hatte ich eine recht gute Kindheit. Gleich den anderen Kindern erledigte ich jeden Tag erst meine Schulaufgaben und die anderen Arbeiten im Hause und hatte danach Zeit zum Spielen.
In Kleinforst gab es einen Platz, wo sich immer alle Kinder trafen. Ich erinnere mich noch an viele Jungs, die etwa in meinem Alter waren: Gerhard Schubert, Hermann Wetzig, Erhard Gruhle, Willi Wendisch, Hans-Georg Ehrlich und Rudi Barche. Wir organisierten immer etwas zu unserer Beschäftigung. Die einen spielten Fußball, die anderen lieber „Verstecken und Suchen“ oder andere Spiele. Wir waren überwiegend Jungens, manchmal kamen aber auch Mädchen hinzu.
Im zeitigen Frühjahr, wenn das Eis auf der Döllnitz zu tauen begann, brachen große Eisstücke ab und schwammen oben auf dem Wasser. Wir sprangen auf diese Eisschollen und stießen uns mit langen Stöcken ab, bis wir in Fahrt kamen. Uns kam es vor, als wären wir auf einem Floß. Das Spiel war zwar sehr gefährlich, es machte uns aber großen Spaß.
Im Winter gab es gewöhnlich Schnee im Überfluss und wir hatten dadurch immer eine Gelegenheit zur Beschäftigung. Wir besorgten uns Bretter und machten daraus ganz einfache Schneeschuhe, die wir mit Riemen und Bändern an unseren Schuhen befestigten. Manchmal zerbrachen wir ein Holzfass und benutzten die gebogenen Fassdauben als Schlitten. Dann bauten wir kleine Sprungschanzen, um die Abfahrt noch gefährlicher zu machen.
Auf dem Altoschatzer Teich liefen wir den ganzen Winter hindurch Schlittschuh und spielten Eishockey. Wer keinen Eishockeyschläger hatte, nahm einfach einen Stock. Oftmals hatten wir Angst zu spielen, da das Eis noch nicht dick genug gefroren war. Dann warteten wir lieber noch. Es kam aber doch vor, dass einer oder mehrere von uns einbrachen. Wir wussten, dass zu Hause immer große Aufregung war, wenn wir nass ankamen. Einmal, es war mitten im Winter, streiften wir deshalb unsere nassen Kleider ab und machten ein kleines Feuer am Rande des Teiches. Anstatt nach Hause zu gehen, hingen wir die Sachen um das Feuer herum und versuchten verzweifelt, diese zu trocknen. Wir waren halb nackt und es war sehr kalt.
Der Leichtsinn war für uns Jungs ein Teil unseres Lebens. Wir taten oft Sachen, die wir noch gar nicht richtig beurteilen konnten. Wir waren eben jung und abenteuerlustig.
Einer von uns Jungens hatte Zugang zu Zigaretten, Zigarren und Pfeifentabak. Da war es für uns das Größte, zusammenzukommen und zu rauchen. Ich erinnere mich, dass mir nach dem ersten Mal so übel wurde, dass ich mich an Ort und Stelle übergeben musste. Ich glaube nicht, dass irgend jemand von uns in dieser Zeit wirklich Gefallen am Rauchen gefunden hat, aber einige von uns rauchten schon deshalb weiter, weil sie sich dadurch erwachsener fühlten.
Als Kind hatte ich immer bestimmte Pflichten zu erledigen, bevor ich mit dem Spielen beginnen konnte. So hatte ich manchmal die Schafe auf das Gras zu führen, die Eier von den Hühnern einzusammeln und die Schweine und Ziegen zu füttern.
Eine Aufgabe, die mir gar nicht gefiel, stand zwei- bis dreimal in der Woche auf dem Plan. Ich musste die Kartoffeln holen und aussortieren, die meine Mutter zum Kochen für das Schweinefutter brauchte. Einen Teil davon hatten wir im Garten in einer Feime untergebracht, die mit Stroh und Erde abgedeckt war. Der größte Teil lag aber im Keller unter dem Haus. Wir hatten dafür extra einen Raum, in dem es kein natürliches Licht gab. Wenn wir in den Keller gingen, mussten wir immer eine Petroleumlampe mitnehmen. Mit dieser konnte man aber auch nur wenig sehen.
Wenn wir in den Keller wollten, mussten wir in der Küche durch eine Öffnung im Fußboden hinuntersteigen. Diese Öffnung war mit einer Klappe verschlossen. Der Geruch, der einem aus dem Keller entgegenkam, wenn man die Klappe öffnete, war entsetzlich. Und er verschlechterte sich, je länger die Kartoffeln lagen und je wärmer es draußen wurde. Manchmal erwischte ich Kartoffeln, die waren so verfault, dass ich nur noch Mus in den Händen hatte. Noch ekeliger war es, wenn man statt einer Kartoffel eine Kröte erwischte. Diese waren fett und mit Warzen und Schleim bedeckt. Wir konnten sie auch quaken hören, wenn sie in den Kartoffeln herumkrochen.
Eines Nachmittags nahm ich wieder einmal meinen Korb und stieg in den Keller. Ich hörte meine Mutter nach Hause kommen. Sie stellte zwar fest, dass ich im Keller bin, aber aus irgend einem Grund schloss sie die Klappe. Normalerweise war das kein Problem, die Klappe von unten wieder zu öffnen. Ich arbeitete deshalb erst einmal weiter. Dann wurde mir aber der Gestank zu stark und ich fühlte, dass ich wegen der fehlenden Luftzirkulation kaum noch atmen konnte. Nun versuchte ich, die Klappe zu öffnen. Aber es ging nur ein kleines Stück. Ich konnte durch diesen kleinen Spalt erkennen, was passiert war. Eine Tür, die zum Nachbarzimmer führte, stand offen und verhinderte das Öffnen der Klappe. Ich schrie nach meiner Mutter, aber sie arbeitete im Garten und konnte mich nicht hören. Ich geriet in Panik, weil ich befürchtete, dass mir der Sauerstoff ausgehen würde. Ich kletterte über den Kartoffelberg, um das kleine vergitterte Fenster zu erreichen, das zur Straße zu eingebaut war. Ich hatte dort gerade erst den Fensterrahmen erneuert und diesen mit Eisen und Nägeln verstärkt. In meiner Panik, oder wie auch immer, drängte ich mich durch die Öffnung hindurch und kam mit meinem Körper zur Hälfte heraus. Glücklicherweise gab es ein paar Jungs, die in der Nähe spielten und meinen Hilferuf hörten. Sie kamen und halfen mir auf dem letzten Stück des Weges nach draußen. Ich hatte zwar Beulen und Verletzungen von den scharfen Kanten des Fensterrahmens, aber sonst war ich o.k.

Als ich etwa 10 Jahre alt war, arbeitete ich zusätzlich zu meinen häuslichen Pflichten in den Sommermonaten bei den Bauern, um unsere Familienkasse etwas aufzubessern. Das nahegelegene Berggut, auf dem bereits meine beiden Schwestern arbeiteten, suchte Mädchen und Jungen für die Feldarbeit. Gewöhnlich waren es reichlich 20 Kinder, die speziell beim Verziehen der Rüben gebraucht wurden. Die Pflanzen waren in Reihe ausgesät worden und gewöhnlich waren dort 10 Pflanzen aufgegangen, wo nur eine hingehörte. Die übrigen hatten wir nun herauszuhacken. Wir arbeiteten den ganzen Tag auf den Knien, bei Sonne und Wind und manchmal auch bei Regen. Es war eine harte Arbeit für uns Kinder und es gab noch zusätzlich einen Wettbewerb unter uns, wer das meiste schafft. Natürlich gab es auch einen Kontrolleur, der auf dem Feld hinter uns herlief und aufpasste, dass die Arbeit auch richtig ausgeführt wurde. Wenn wir zu schnell arbeiteten, machten wir auch Fehler. Entweder nahmen wir aus Versehen alle Pflanzen weg oder ließen zu viele stehen. Dann bekamen wir vom Aufseher mit einem Stock einen Schlag auf den Rücken.
Je nach Leistung wurden etwa 5 Pfennige für die Stunde bezahlt, aber ich war glücklich, dass ich überhaupt Arbeit hatte.
Während eines Sommers hatte ich die Möglichkeit, in der Rosenschule zu arbeiten, die gegenüber von Kleinforst in Oschatz lag. Ich erinnere mich noch an die älteren Frauen, die dort arbeiteten. Sie waren darin ausgebildet, Rosen zu veredeln und zu kultivieren. Sie mussten dazu ein kleines Stück von einer edlen Rose in eine Wildrose einsetzen. Diese Stelle war sehr empfindlich und empfänglich für Krankheiten. Meine Aufgabe bestand darin, die veredelte Stelle einzubinden, um diese zu schützen. Diese Arbeit brachte mir 10 Pfennige in der Stunde. Obwohl der Tag sehr lang und das Wetter oft sehr heiß war, waren die Arbeitsbedingungen dort viel besser als auf dem Feld.
Durch das Versorgen der Tiere bei uns zu Hause und durch das Arbeiten in der Landwirtschaft entwickelte sich in mir die Liebe zur Natur. Diese frühen Erfahrungen beeinflussten mich für mein ganzes Leben. Ich habe bis heute die Liebe und das Interesse an der Natur nicht verloren.

Als ich ungefähr 12 Jahre alt war, wurde meine Schwester schwanger, obwohl sie noch gar nicht verheiratet war. In einer kleinen Gemeinde wie Kleinforst war es beinahe unmöglich, so etwas geheim zu halten. Es sprach sich schnell herum und brachte unsere Familie etwas in Schwierigkeiten.
Um diese Zeit wusste ich aber noch nicht, woher die Babys eigentlich richtig kommen. Ich hatte immer noch die Vorstellung, dass der Storch die kleinen Kinder bringt. So verstand ich nicht, warum diese Schwangerschaft eine so aufregende Angelegenheit war. Die Jungen in der Nachbarschaft diskutierten über das Phänomen und nach einiger Zeit dachte ein älterer Junge, er hätte die Antwort auf diese Frage gefunden. Wir kamen aber trotzdem nicht hinter das Geheimnis.
Eines Morgens, ich war noch halb im Schlaf, hörte ich von unten ein eigenartiges Geräusch. Es hörte sich an, als würde ein kleines Kätzchen vor Hunger nach seiner Milch rufen. Kurz danach öffnete meine Mutter die Tür zu meinem Zimmer, kam herein und setzte sich an das Ende meines Bettes. Sie sagte: „Rudi, ich habe eine Neuigkeit für dich, deine Schwester hat ein Baby bekommen“. Ich drehte mich sofort um und begann zu weinen. Ich war so entsetzt. Ich dachte, ich müsste jetzt wieder die Arbeiten übernehmen, wie bei den anderen Babys.
Meine Schwester und ihr Baby blieben in unserem Haus. Ich erinnere mich noch genau an die Zustände in unserer Küche. Wenn ich am Tisch saß, um mein Frühstück einzunehmen, oder wenn ich die Hausaufgaben machte, immer lag das Baby neben mir und wurde gefüttert oder gewickelt. Das Baby kam auf den Tisch, ohne Rücksicht darauf, was wir gerade taten. Manchmal roch es dann auch recht unangenehm. Dann verzog ich mich lieber an einen anderen Ort.

Das waren einige meiner Erinnerungen an Kleinforst. Die Leute lebten damals einfach und bescheiden. Vielleicht war deshalb auch ihr Gemeinschaftssinn so sehr ausgeprägt. Ganz gleich, ob etwas Gutes oder Schlechtes passierte, die Kleinforster hielten immer zueinander. Auch das hat mich für mein späteres Leben geprägt. Wenn es meine Zeit und meine Gesundheit erlauben, komme ich noch immer gern in meine Heimat zurück.


Zu den „Erinnerungen an Kleinforst“ noch ein Nachtrag:

Unter dem Titel „The King off the Road“ schrieb Herr Rudolf Tischer seine Autobiographie, aus der der vorhergehende Text mit seiner Zustimmung entnommen wurde. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgten Frau Elfriede Milde und Herr Hermann Schöne.

In seiner Erzählung schildert Herr Rudolf Tischer auch einige Erlebnisse, die er als Kind mit seinem Vater hatte. Zur Person seines Vaters Paul Tischer wäre noch folgendes nachzutragen:

Paul Tischer wurde 1878 geboren. Nach dem Schulabschluss arbeitete er als Knecht bei verschiedenen Gutsbesitzern in Lonnewitz und Zeicha. Danach trat er seinen Militärdienst an und diente von 1899 bis 1902 bei einem Rittmeister in Borna bei Leipzig als Pferdebursche. Anschließend bekam er nach einer einjährigen Dienstzeit als Knecht in Merkwitz eine Anstellung bei der Firma Ambrosius Marthaus in Oschatz als Kutscher. Diese Tätigkeit war scheinbar die ideale Arbeit für ihn. Er war nicht mehr in der Landwirtschaft beschäftigt, hatte es aber trotzdem noch mit Pferden zu tun. Die Arbeit wird für ihn interessant und abwechslungsreich gewesen sein und vielleicht verdiente er dabei auch etwas mehr Geld als früher. Der Firma Marthaus hielt er jahrzehntelang die Treue. Im Februar 1929 wurde das auch entsprechend gewürdigt. Von der Handelskammer Dresden erhielt Paul Tischer für seine 25jährige Betriebszugehörigkeit das tragbare Ehrenzeichen am grün-weißen Bande. Eine schöne Auszeichnung und Anerkennung! Die Ehrung nahm im Auftrage der Handelskammer Herr Franz Techner vor, der damals Direktor der Chemischen Fabrik Lipsia Mügeln und Kammermitglied war.

Als Paul Tischer im gleichen Jahr verstarb, würdigte der Firmenchef Ambrosius Marthaus in einer Traueranzeige am 6. Juni im „Oschatzer Gemeinnützigen“ den schlichten und edlen Charakter des Verstorbenen und seine Verdienste für die Firma.

Paul Tischer war nicht der einzige, der mit dem Pferdefuhrwerk für einen Oschatzer Betrieb unterwegs war. Viele Firmen erledigten ihre Transporte auf diese Weise. Für diese relativ kurzen Wege innerhalb der Stadt waren die Gespanne das wirtschaftlichste Betriebsmittel der damaligen Zeit. Die Pferde wurden übrigens nach etwa 3 Jahren „pflastermüde“ und mussten ausgewechselt werden.
Den letzten Kutscher wird wohl die Oschatzer Waagenfabrik beschäftigt haben, früher Kopp und Haberland. Er hieß Max Martin und war der Nachfolger von Max Ruff. Der Wechsel zwischen den beiden erfolgte Anfang der 50er Jahre, danach ist das Pferdegespann nur noch wenige Jahre in Betrieb gewesen. Es gibt darüber sogar eine Notiz in der Grundmittelkartei: „Unser Pferd „Liese“ ist aus dem Betrieb ausgeschieden.“
Die Tradition der Fuhrleute setzte Max Ulbrich noch lange Zeit in Oschatz fort. Er gehörte aber keinem Betrieb an, sondern arbeitete selbständig.



Ehrhard Gruhle
Wie mein Großvater zu seinem Fahrrad kam

Mein Großvater Ernst Gruhle war gelernter Maurer und um 1900 herum Polier beim Oschatzer Baumeister Gehlhaar. Er ging jeden Tag zu Fuß zur Arbeit, das war damals selbstverständlich, auch wenn die Baustellen kilometerweit entfernt lagen. Er unterschied sich damit auch nicht von den anderen seiner Zunft, aber gerade das störte seinen Arbeitgeber. Die Folge war, dass sich mein Großvater Ernst Gruhle als Maurerpolier unbedingt ein Fahrrad anschaffen sollte. Nebenbei versprach sich Gehlhaar sicher auch noch eine größere Beweglichkeit seines Angestellten während seiner Arbeitszeit.
Das war aber für meinen Großvater leichter gesagt als getan, denn für ein Fahrrad fehlte es am nötigen Kleingeld. Um das Problem zu lösen, gab es eigentlich nur eine Möglichkeit: Zu den 2 Schweinen im häuslichen Stall musste noch ein drittes für das Fahrrad eingesperrt werden. Das bedeutete aber auch, dass wir fortan noch mehr in die Kartoffeln gehen mussten, um für den zusätzlichen Fresser etwas zusammenzustoppeln. Und das war gar nicht so einfach.
Es kam wie geplant, mein Großvater kaufte sich sein Fahrrad und viele seiner Kollegen werden ihn darum beneidet haben. Fortan unterschied er sich vom einfachen Fußvolk!

Zur Geschichte mit dem Fahrrad noch eine Ergänzung:

Das Fahrrad war zu dieser Zeit noch gar nicht so alt. 1813 hatte es der Badener Forstmeister Karl Friedrich Feiherr Drais von Sauerbronn erfunden - ein unbequemes hölzernes Laufrad. Ab 1853 gab es die Tretkurbel, ab 1869 das Hochrad und erst ab 1887 das moderne Niederrad mit Kettenantrieb, Luftreifen und Freilaufnabe. Gegen Ende des 19ten Jahrhunderts waren es fast ausschließlich zahlungskräftige Sportbegeisterte, die sich Fahrräder als Freizeitspaß leisten konnten. Ein Niederfahrrad kostete damals über 600 Mark! In der Zeit, in der sich Ernst Gruhle sein Fahrrad kaufte, waren die Preise schon wesentlich günstiger. So kostete gegen 1903 ein Fahrrad etwa 150 Mark. Für die „kleinen Leute“ war das aber immer noch eine Unmenge Geld.



Dipl.- Ing. Manfred Hennig
Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit und Jugend in Kleinforst

Ich wurde am 7. Mai 1932 in Kleinforst geboren und wohnte im Haus Nr. 50 (Paul-Schuster-Straße 18). Am 1. April 1938 wurde ich in der Volksschule Altoschatz eingeschult und kam so unter die erzieherische Obhut unseres beliebten Lehrers und Kantors Martin Matthäus, der bei uns nur „Matcher“ hieß.
Wie sah damals unser Schulweg aus? Das Doppelhaus Küttner / Walter (heute Paul-Schuster-Straße 12 und 10) war damals das letzte Wohnhaus auf der Siedlerstraße in Richtung Altoschatz. Von da ab gab es nur einen unbefestigten Weg, der etwa am „großen Stein“ auf die bessere Straße einmündete, die vom „alten Forscht“ herunter kam. Der „große Stein“ war ein mächtiger Quader aus dem Altoschatzer Steinbruch und für uns ein beliebter Treffpunkt. Wir waren dort auch immer zur Stelle, wenn ein Kleinforster mit einem schwer beladenen Handwagen den Berg hoch musste.
Im Winter war unser Siedlungsweg eine beliebte Schlitten- und Schlitterbahn. Bis zur Schlachtezeit der Gänse hatten übrigens alle Schulgänger Probleme mit dem obersten Ganter der Gänseschar meiner Tante Minna Küttner. Er war bissig wie ein Hund!
Der Charakter der Siedlung hat sich bis heute kaum verändert. Anders dagegen das Gelände zwischen Kleinforst und dem Berggut. Dort gab es bis kurz nach dem Krieg zwei Restlöcher vom Quarzitabbau, die mit Grundwasser vollgelaufen waren. Das war unser Paradies! Wir unterschieden zwischen dem hinteren und dem vorderen Teich. Der vordere Teich zog sich vom Grundstück Werschnik aus über eine Länge von etwa 200 Metern hin. Er ging fast bis an den hinteren Teich heran, einem Rundling mit einem Durchmesser von etwa 50 Metern.
Im Sommer nutzten wir diese als Badeteich und im Winter zum Eislaufen. Richtige Schlittschuhe hatte von uns keiner. Es gab nur die sogenannten „Absatzreißer“, die sich an der Sohle und im Absatz festkrallten. Man kann sich leicht vorstellen, wie das über die Schuhe ging.
Es gab aber auch Karpfen, Schleie und Barsche in den Teichen. Sie gediehen darin prächtig, denn das Wasser wurde ja nie abgelassen. Wie wir mit primitiven Mitteln zu unseren Fischen kamen, darüber könnte man noch viele Geschichten erzählen. Im hinteren Teich gab es sogar Kammmolche und Feuersalamander. Hier hatte sich die Natur ihr eigenes Paradies geschaffen. Nach dem Kriege richtete „Heilkräuter-Förster“ oberhalb des hinteren Teiches eine Plantage ein, in der er Heilkräuter anbaute. Da waren auch Pflanzen dabei, die uns vollkommen unbekannt waren.
Leider begann die Stadt Oschatz in den letzten Kriegsjahren, beide Teiche als Mülldeponie zu nutzen. Der Vorschlag der Kleinforster, wenigstens den vorderen Teich zu erhalten, wurde abgelehnt. So wurden die Restlöcher verfüllt und auf dieser Fläche eine Kleingartenanlage errichtet. Wahrscheinlich wissen einige der jetzigen Nutzer gar nicht, was unter ihrer Scholle einmal war.

Ein weiterer Treffpunkt von uns Kindern war die „Eiche“, ein mächtiger Eichenstamm, der am Hang hinter dem heutigen Grundstück Paul-Schuster-Straße 8 lag. Das Gelände gehörte zum Berggut und war mit Stacheldraht eingezäunt. Beim Erscheinen des Berggutbesitzers, Herrn Kästner, mussten wir immer schleunigst Reißaus nehmen. Obwohl wir ihm immer beim Rübenverziehen und beim Kartoffelnlesen halfen, machte er da keine Ausnahme.
Auch am Abzweig der heutigen Querstraße von der Paul-Schuster-Straße haben wir viel gespielt. An diesem kleinen Platz lagen die Grundstücke von Hugo Richter, Paul Pötzsch, Paul Quitzsch und Walter Riedel. Besonderen Respekt hatten wir vor Herrn Richter, mit ihm war nicht gut Kirschenessen. Besonders dann, wenn das Gras auf der Wiese vor der Mahd stand und uns der Ball über den Zaun geflogen war. Um ihn zu ärgern, hoben uns manchmal die Großen absichtlich über den Zaun, obwohl gar kein Ball zu holen war.
Dieser Platz war zur damaligen Zeit auch der Haltepunkt für das Dreiradauto eines Fischhändlers aus Oschatz. Er hieß bei uns nur der „Heringsbändiger“ und sein Dreiradauto die „Dreikantfeile“.

Ebenfalls aus Oschatz, oder „aus der Stadt“, wie es damals hieß, war der Getränkehändler. Er kam mit seinem Fuhrwerk und verkaufte gezapfte und abgefüllte Getränke. Die Fassbrause vom Bierkutscher war bei uns der absolute Renner.
Außerdem kam auch noch der Bäcker Taube aus Merkwitz mit seinem Einspänner-Planwagen, der von einem Schimmel gezogen wurde. Er verkaufte hier hauptsächlich Brot.
In Kleinforst selbst waren damals auch noch viele Handwerker und Gewerbetreibende ansässig. Beginnen wir mit dem Besenbinder Paul Quitzsch in der heutigen Paul-Schuster Straße. Er verdiente sein Brot nicht leicht mit seiner Arbeit. Sein Sohn Horst war damals mein Spielgefährte. Er musste zu Hause immer helfen, wenn es an den Schnitt des Besenreisigs ging.
In der heutigen Forststraße betrieb Ida Finke einen Kolonialwarenladen. Sie war meine Patentante und wurde „Finken-Idel“ genannt. Ihr Laden war ein echter „Tante Emma Laden“. In ihm fehlte nicht einmal die Bank, auf die man sich setzen konnte, wenn der Austausch der Neuigkeiten längere Zeit in Anspruch nahm. Ihr Mann Bruno betrieb im Hinterhof eine kleine Tischlerei. Vom Sarg bis zum Wohnzimmerschrank stellte er alles her.
Nur wenige Schritte weiter gab es den Friseur Kurt Höppner, der uns die modernen „Halbmondfrisuren“ für 50 Pfennige verpasste. Er hatte den Spitznamen „Matke“. Es hieß deshalb auch nicht: „Du gehst zum Friseur“, sondern: „Du gehst zu Matke“. Man musste dann immer höllisch aufpassen, dass man nicht sagte: „Guten Tag, Herr Matke“.
Gleich das nächste Haus gehörte dem Schneidermeister Curt Richter. Er war einer der 4 Richters, die in Kleinforst wohnten, die aber nicht miteinander verwandt waren. Um sie zu unterscheiden, wurde umgangssprachlich noch der Beruf hinzugefügt. So gab es außer dem Schneider-Richter noch den Hammer-Richter (er arbeitete in Riesa im  „Hammer“), den Friedhofs-Richter und den Schweizer-Richter (er arbeitet als Schweizer im Berggut). Bei Schneider Richter konnte man in meiner Jugendzeit auf die damals obligatorische Punkte- oder Kleiderkarte einen maßgeschneiderten preiswerten Anzug erhalten. Einen Kleiderbügel mit seinen Initialen benutze ich noch heute in meinem Haushalt.
Nur ein kleines Stückchen weiter war der nächste Handwerker, der Schuhmacher Robert Koch. Er war ein kinderfreundlicher, lustiger Handwerker. Bei ihm konnte ich stundenlang in der Werkstatt sitzen und zuschauen, wie er die Holztäkse aus dem Mund nahm und die Schuhe besohlte.
In der unteren Reihe in Kleinforst lag gleich neben dem Eckhaus von Willi Schroth der kleine Hof vom Bauer Anton Kretzschmar. Er ließ seine Kühe auch den Wagen ziehen, wozu man normalerweise nur die Ochsen nahm.
Ein paar Häuser weiter war die Bäckerei von Klara Wittig. Sie beschäftigte Louis Kadner als Gehilfen. Von ihm bekam man auch die in Lot ausgemessene Backhefe, wenn es zu Hause Hefeklöße geben sollte. Lot war eigentlich ein Apothekergewicht und entsprach 16,667 Gramm. So genau wurde das damals mit der Hefe genommen. Wenn wir Louis ärgern wollten, verlangten wir ein Lot „Haumichblau“ und suchten dann schnell das Weite.
In der Zeit, in der die „Forschter“ ihre Stollen zum Bäcker trugen, ging es in der Backstube sehr hektisch zu und alle taten wegen ihrer Zutaten recht geheimnisvoll. In der Kirmeszeit flutschte der Laden durch die Lohnbäckerei von Blechkuchen.
Ein paar Häuser weiter kam dann die beliebte Gaststätte „Goldene Höhe“, damals noch mit Fleischerei. Hilde und Willy Ehrlich sind mir noch als Besitzer gut in Erinnerung. Bei ihnen fanden auch größere Familienfeiern statt und viele Vereine hatten dort ihren Treffpunkt.
Nach dem Tod von Willy Ehrlich mussten die Kleinforster die Fleisch- und Wurstwaren in der Stadt einkaufen. Frau Ehrlich funktionierte den Laden zur Poststelle um und trug am Vormittag in Kleinforst die Post aus. Ich sehe die beiden Ehrlichs noch heute vor mir: Hilde mit der Nickelbrille auf der Nase und Willy in der gestreiften Schürze und mit dem kleinen Oberlippenbärtchen.
Eine gute Erinnerung habe ich auch noch an Otto Ader, den Kleinforster Sattler. Er lag mit seinem Haus und seiner Werkstatt ziemlich am Ende der Straße. Auch er duldete, dass man ihm bei der Arbeit über die Schulter schaute, obwohl die Naht am Schulranzen schnell erledigt war.
Die Konfirmationsstunden bei Pfarrer Frankendorfer fielen für uns in das letzte Kriegsjahr. Trotzdem habe ich in dieser ernsten Zeit viel Lustiges erlebt. So saßen wir bei den älteren Konfirmanden unter den Schulbänken und amüsierten uns über ihre Streiche. Mit der Konfirmation Ostern 1946 war dann die Kinderzeit zu Ende. Mit der Lehre begann für uns ein neuer Lebensabschnitt. Mit etwa 16 Jahren ging das frohe Jugendleben auf dem Tanzboden los. Wir gingen hauptsächlich in den nahen Gasthof Altoschatz, der Fritz Knorrn gehörte. Trotzdem wir noch nicht 18 waren, gewährte er uns Einlass. Vor der Polizeikontrolle suchten wir aber immer schnell das Weite.
Erinnern kann ich mich auch noch an das rege Vereinsleben und an die Feste in der Gemeinde. Wir Jugendlichen organisierten uns in der neugegründeten FDJ. Ich erinnere mich noch an das Deutschlandtreffen 1950 in Berlin, an dem wir Jugendlichen aus Kleinforst und Altoschatz teilnahmen. Alleine die Fahrt in einem Güterwagen von Oschatz bis nach Berlin war für uns ein großes Abenteuer.
Vielleicht merkt man an meinen Erinnerungen, dass ich den „Forscht“ nicht vergessen habe. Ich hätte mir früher nicht vorstellen können, dass ich das beschauliche Kleinforst einmal mit der lauten Großstadt vertauschen werde. Jetzt ist Dresden schon über 48 Jahre mein zu Hause. Aber einmal im Jahr zieht es mich wieder in den „Forscht“, der seinen Reiz für mich nicht verloren hat.



Käthe Lohse
Die Rassenschande

Meine Eltern hatten im Haus Nr.44 (Paul-Schuster-Straße 7) einen kleinen Laden eingerichtet. Mein Vater Alfred Krell war Steinarbeiter und meine Mutter verdiente sich durch den Handel etwas dazu. Sie verkaufte Getränke und Tabakwaren.
Ich erinnere mich noch an ein besonderes Erlebnis aus dem Jahre 1935.
Es war ein Sonntag, es gab gerade mein Leibgericht zu Mittag: Nudeln mit Hühnerfleisch. Als wir zu essen anfingen, kam Schutzmann Schulze plötzlich an die Tür. Er stammte aus Oschatz, war aber auch für Kleinforst zuständig und hieß bei uns wegen seiner Statur nur „der dicke Schulze“. Die Eltern baten ihn herein und mir blieb das Essen fast im Halse stecken. „Sie haben am Sonntag Bier verkauft, wurde uns angezeigt. Das ist verboten und wird bestraft“. Die Mutter war sogleich gefasst und sagte: „Es war bestellt und wurde nur abgeholt“. Daraufhin erkundigte sich der Schutzmann bei den Bierkunden und diese bestätigten auch zum Glück, dass es so war. So sah er von einer Anzeige ab.
Aber ganz ungeschoren kamen wir trotzdem nicht davon. Meine Mutter hatte am Ofen einen Korb mit einem kleinen Zicklein stehen, das erst einen Tag alt war. Es lag unter einer Decke und hatte es schön warm. Nichtsahnend zeigte es meine Mutter dem Polizisten. Der aber wollte es nun genau wissen und fragte, wie das Muttertier ausgesehen hätte. Meine Mutter sagte: „Rehbraun mit Hörnern“. Darauf  der Polizist: „Und warum ist das ein weißes Zicklein?“. „Der Bock aus der Burgstraße war weiß“, antwortete mein Vater. „Das ist Rassenschande und steht unter Strafe und wird mit einem Bußgeld von 7,50 Reichsmark belegt“, erwiderte darauf der Polizist. Wir waren alle fassungslos, das war doch eine Menge Geld!
Ich war zu dieser Zeit 10 Jahre alt und bekam von meinen Eltern den Auftrag, die Strafe im Gerichtsgebäude zu bezahlen. Als ich dort gefragt wurde, was ich denn wollte, sagte ich: „Strafe bezahlen, weil die braune Ziege zum weißen Bock geführt wurde“. Da konnte sich der Beamte das Lachen nicht verkneifen, aber bezahlen musste ich trotzdem!



Hedwig Teumer
Das Kriegsende und die Nachkriegszeit in Kleinforst

Ich war in den letzten Kriegsmonaten in Elstertrebnitz als Lehrerin tätig. Das Dorf lag bei Pegau im Kreis Borna. Ich wohnte bei einer alten Dame und hatte 2 Zimmer, die mit einem eisernen Kanonenofen beheizt wurden.
In dieser Zeit, es war Februar / März 1945, wurde unsere Region stark bombardiert. Ich erinnere mich an einen Angriff, den wir im Keller des Hauses erlebten und wo die Bomben über uns hinweg brausten. Am Morgen stellte sich heraus, dass sie auf das Feld nebenan gefallen waren. Unser Dorf lag nur wenige Kilometer von Profen entfernt, das oft angegriffen wurde. Um diese Zeit wurde auch Leipzig ständig bombardiert. Dann hieß es, der Bahnhof in Pegau wäre stark zerstört worden. Das bedeutete für mich, dass mein Heimweg nach Oschatz abgeschnitten war.
Auf dem Gut hörten wir jeden Abend ganz leise „Radio London“. Damit verfolgten wir den Vormarsch der US-Streitkräfte, die schon bis Thüringen vorgerückt waren. Vom Osten kamen die Russen immer näher. Unser Direktor hatte uns gerade wieder einmal erklärt, dass wir Panzerfäuste erhalten sollten, um damit die Rote Armee aufzuhalten. Auf Grund dieser Umstände entschloss ich mich Mitte März, meinen Heimweg nach Oschatz anzutreten. An einem Wochenende machte ich mich um 4 Uhr früh mit dem Fahrrad auf den Weg nach Groitzsch. In diesen frühen Morgenstunden war am wenigsten mit Alarm zu rechnen. Ich trank in Groitzsch bei einer Kollegin noch Kaffee und fuhr dann weiter in Richtung Borna. In Neukieritzsch kam ich in den ersten Alarm. Ich musste mit anderen Leuten die Straße verlassen und in einem Bergwerksstollen Schutz suchen. Nach der Entwarnung fuhr ich nach Borna weiter. Wieder Alarm! Tiefflieger kamen und ich warf mein Fahrrad in den Straßengraben und legte mich dazu. Als die Tiefflieger vorbei waren, fuhr ich durch einen Wald weiter nach Bad Lausick. Hier hatte ich eine Kameradin, bei der ich übernachten konnte. Um 3 Uhr früh wieder Alarm! Ich zog mich mit den Hausbewohnern in den Keller zurück und wartete den Angriff ab. Es fielen viele Bomben. Um 6 Uhr brach ich dann in Richtung Oschatz auf und kam so gegen 9 Uhr in Kleinforst an. Von nun an gab es für mich keine Möglichkeit mehr, nach Pegau zurückzukehren. So erlebte ich das Kriegsende in Kleinforst.
Hier waren auch schon viele Menschen aus den Ostgebieten einquartiert, jedes Haus war voll belegt. Bei uns lebte meine Tante aus Berlin, die sich vor den heftigen Bombenangriffen in Sicherheit gebracht hatte. Ich selbst war krank geworden und hatte damit einen Grund, dass ich nicht in die Schule auf Arbeit gehen musste.
Um diese Zeit erhielten wir auch eine Sonderzuteilung an Lebensmitteln. Der Bürgermeister Kottwitz ließ diese aus dem Oschatzer Heeresproviantlager von Altoschatzer Bauern mit Pferdefuhrwerken holen und lagerte sie in der Turnhalle Altoschatz ein. Jede Familie bekam pro Person 10 Fleisch- bzw. Wurstbüchsen pro Person und wir holten diese mit dem Handwagen nach Hause. Das war natürlich eine feine Sache, wir hatten aber Angst, dass diese später wieder beschlagnahmt würden. Deshalb schaufelten wir im Stall etwas Rohbraunkohle beiseite und versteckten die Büchsen darunter.
Eines Tages kam die Kunde, dass im Gut Saalhausen die Vorräte an Schnaps aus der Brennerei verteilt würden. Mein Vater machte sich mit einer großen Steingutflasche auf den Weg und brachte diese voll wieder mit nach Hause. Wir haben dann die Flasche sicherheitshalber im Garten vergraben. Unser Silberbesteck brachten wir im Hühnerzwinger in Sicherheit
Inzwischen war Mitte April geworden. Sowohl die Russen als auch die Amerikaner näherten sich immer mehr der Elbe. Eines Tages war Fliegeralarm. Es war gerade Mittagszeit. Wir gingen mit unserem Essen in den Keller und beobachteten durch das Fenster, wie Tiefflieger unsere Flugzeuge beschossen, die auf dem Flugplatz abgestellt waren.
Dann kam das Gerücht auf, die Russen wären bereits in Strehla. Am 27. April hieß es, die Amerikaner sind in Oschatz und es würden überall weiße Fahnen heraushängen. Diese Nachricht bestätigte sich auch.
Mit dem Einzug der Amerikaner waren alle Kriegsgefangenen frei. Wir merkten zunächst nicht viel davon, aber am 28. April wurden die Speicher des Heeresproviantamtes am Oschatzer Bahnhof von den Kriegsgefangenen geplündert. Auch viele Oschatzer und einige Kleinforster fuhren mit dem Handwagen los, um sich etwas zu holen. Sie brachten vor allem Käse und Rohzucker mit nach Hause. Den Käse musste man mit Wasser anrühren, er schmeckte aber sehr gut.
Am nächsten Tag waren die Speicher vollkommen ausgeräumt. Wie es hieß, war bei den Plünderungen ein Mann von einer Kiste erschlagen worden, die aus einem der oberen Stockwerke heruntergeworfen wurde.
In der gleichen Zeit plünderten die Leute auch die Kasernen und Wohnhäuser auf dem Flugplatz. Ich selbst fuhr auch mit einem Handwagen los und holte Holz von Türen, die eingeschlagen wurden. Wir hatten dadurch lange Zeit einen kleinen Vorrat zum Heizen. Manche Leute brachten aus den Offizierswohnhäusern auch Teppiche und Schreibtische mit. Um diese Zeit gab es auch überall Fallschirmseide. Einmal gab es diese als Stoff und zum anderen als Garn. Auch ich hatte ein blau gefärbtes Kleid, das mit weißer Fallschirmseide bestickt war.
Am 5. Mai zog dann die Rote Armee in Oschatz ein und am 6. Mai gegen Mittag kamen die Russen auch nach Kleinforst. In jedem Haus quartierten sich die Soldaten ein. Bei uns wohnten 3 Offiziere und ein Bursche. Die Offiziere versuchten, Radio Moskau zu finden, aber es gelang nicht, der Apparat war zu schwach.
Dann ergab sich eine schöne Episode: Der Bursche in unserem Haus wollte im ersten Stock fegen. Er fand einen Besen und fragte meine Mutter: „Der Bessen, das Bessen, oder die Bessen?“ Meine Mutter war vollkommen verwirrt und sagte: „Das Bessen.“ Nun ging der Bursche die Treppe hinauf und wiederholte immer wieder: „Das Bessen, das Bessen, das Bessen“ usw.
So ging der Nachmittag dahin. Der Bursche suchte in unserem Garten Zwiebeln. An der Ecke stand nämlich die Gulaschkanone. Es war vielleicht ½ 6 Uhr abends, da kam der Bursche angerannt, brachte einen Topf voll Borschtsch und sagte: „Schnell alle fort“ und zeigte in Richtung Süden, „dort Wehrwolf“. Es gab anscheinend im Süden Sachsens noch kämpfende Einheiten. Die Mannschaft hatte nicht einmal mehr Zeit, ihre Krautsuppe aus der Gulaschkanone zu essen. Auf diese Weise ging es ganz schnell und die Rote Armee war wieder aus Kleinforst verschwunden. Es gab erst einmal ein großes Aufatmen. Nur ein Panzer stand noch bei Webers am Stadtpark auf der Straße, er war wegen eines Schadens liegengeblieben und wurde von ein paar Soldaten bewacht.

Das Kriegsende war für uns alle eine unvorstellbare Erleichterung und Freude. Herr Kürsten und Herr Keßner gingen mit der Ziehharmonika auf die Straße. Dabei haben auch einige Frauen, die dort wohnten, auf der Straße getanzt. Aber die unruhige Zeit hielt an. Die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, die bei den Bauern auf dem Lande oder in den Betrieben gearbeitet hatten, waren frei. Sie machten sich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Es hieß, diese Menschen hätten 3 Tage Plünderungsfreiheit. Sie verlangten hauptsächlich Uhren und Fahrräder.
Eines Tages war ich im Garten und hörte ein ziemliches Stimmengewirr im Haus der Familie Quitzsch. Dort wohnte die Familie Winkler. Wie sich bald herausstellte, war die Tochter der Familie erschossen worden. Sie war über die Schwedenschanzen gegangen, um ihren Freund zu treffen. Man erzählte sich später, ein Russe hätte sie erschossen, weil er sie für den Bauer Kühne gehalten hatte. Doch der war gar nicht mehr im Ort.
Dann hieß es auf einmal, morgen würden alle Frauen abgeholt! So machten wir uns auf den Weg und versteckten uns auf dem Kreischaer Berg. Es passierte aber nichts und wir gingen abends wieder heim.
Ein neues Unheil schien sich anzubahnen, als ich früh durch laute Geräusche geweckt wurde. Ich sprang aus dem Bett und schaute zum Fenster hinaus. Ein Russe oder Pole wollte mit einem Panjewagen in unser Grundstück fahren, kam aber nicht durch das Tor. So fuhr er bei März´ens in den Hof. Zum Glück hat er niemanden belästigt, er saß den ganzen Tag auf den Stufen und spielte auf einer Ziehharmonika. Auch bei Johns stand ein Panjewagen im Grundstück und das Pferd graste im Garten.
In dieser unruhigen Zeit, so wurde erzählt, schliefen die jungen Mädchen , die weiter oben wohnten, bei Lohses im Heuschuppen.
Gleich nach Kriegsende war auch der Berggutsbesitzer Kästner verschwunden, er soll sich bei seinem Hofmeister Barth versteckt gehalten haben. Sein Land fiel später unter die Bodenreform und wurde aufgeteilt. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, in der Landwirtschaft mitzuarbeiten, z. B. bei der Rübenpflege und bei der Einbringung der Ernte. Auf den Feldern wurde jedes Korn geborgen. Wenn ein Getreidefeld abgeerntet wurde, warteten schon die Frauen am Feldrand. Auf ein Zeichen des Bauern strömten sie alle auf die abgeerntete Fläche zum Ährenlesen. In Kleinforst hatte jedes Haus Hühner, da wurden die Körner zum Füttern gebraucht. Es gab aber auch Leute, die die Ähren selbst mit dem Dreschflegel ausdroschen und die Körner in der Mühle gegen ein bisschen Weizenmehl eintauschten.
Nach der Getreideernte kam die Kartoffelernte. Damit begann das Kartoffelstoppeln.
Aber auch Zuckerrüben waren sehr begehrt. Sie wurden geschnitzelt, gekocht und ausgepresst. Der Saft wurde dann im Waschkessel so lange gekocht, bis er eingedickt war. Für meinen Onkel aus Berlin waren die auf der Herdplatte gerösteten Brotscheiben, die mit Rübensirup bestrichen wurden, eine Köstlichkeit!
So war jeder damit beschäftigt, sich etwas Zusätzliches zum Essen zu beschaffen. Was es auf Lebensmittelkarten gab, war zu wenig. Jedes Stück Land wurde damals für die Ernährung gebraucht. Bereits 1945/46 wurden auf der Halde hinter den Siedlungshäusern in der heutigen Paul-Schuster-Straße Flächen vergeben, auf denen man sich einen Garten anlegen konnte. Dieses Angebot nutzten vor allem die Flüchtlingsfamilien.
Nach dem Krieg begann auch die Zeit des Stöckerodens. In den umliegenden Wäldern und auch am Stranggraben wurden Bäume gefällt und die Bevölkerung durfte danach die Wurzeln roden. Das Holz wurde meist mit dem Handwagen nach Hause gefahren. Oft kam es dabei vor, dass das überladene Fuhrwerk auf dem Nachhauseweg zusammenbrach!
Das allgemeine Leben wurde in der ersten Zeit nach dem Krieg durch die sowjetische Militäradministration (SMA) geregelt. Sie befasste sich auch mit den Kindern, die noch kein richtiges Zuhause hatten und auf der Straße herumlungerten. So gab es einen Befehl, die Kinder in Ferienlagern bei Sport und Spiel zu beschäftigen. Danach wurde der Schulbeginn vorbereitet. Es gab eine Entnazifizierungskommission, die festlegte, welche Lehrer weiter unterrichten dürfen. Das waren vor allem die jungen Lehrer. Ihnen wurde die Parteimitgliedschaft nicht zur Last gelegt. Alle anderen Lehrer wurden entlassen. Für sie kamen die sogenannten Neulehrer in den Dienst. Diese waren im Schnellverfahren in Dahlen ausgebildet worden und gingen ihre neue Aufgabe mit Elan an. Für sie gab es in den Ferien in der Erich-Vogel-Schule Weiterbildungsmaßnahmen. Trotz großer Kälte kamen damals die Kollegen von Hohenwussen zu Fuß nach Oschatz!
Ich fing als Lehrer zunächst in der Erich-Vogel-Schule an und übernahm dann später als Schulleiterin die Schule in Altoschatz. Der Schulunterricht wurde durch die sowjetische Kommandantur kontrolliert. Es gab dafür extra einen Bildungsoffizier, er hieß Konkow. Er besuchte auch die Altoschatzer Schule und nahm am Unterricht teil. In der Auswertung beanstandete er, dass sich ein Lehrer während des Unterrichtes ein bisschen auf das Pult gesetzt hatte.
Wir hatten nach dem Kriege sehr kalte Winter und die Schule konnte wegen der knappen Brennstoffe nicht mehr geheizt werden. In dieser Zeit gab es keinen Unterricht, den Kindern wurden nur Hausaufgaben erteilt. Sie mussten diese jeden Tag in der Schule vorzeigen und bekamen wieder neue Aufgaben mit nach Hause.
Kurz nach Kriegsende wurde für alle Kinder die Schulspeisung eingeführt. Es gab Roggenbrötchen und ein Glas Milch dazu. Bei uns in Altoschatz wurden die Brötchen aufgeschnitten und mit Marmelade bestrichen, dann schmeckten sie natürlich etwas besser. Wir machten das alles im Lehrerzimmer.


Ein Nachtrag zu dem Bericht von Frau Teumer:

Unter dem Titel „Menschen, Schicksale, Erinnerungen“ wurde 1995 in der OAZ ein Bericht von Frau Gretel Schubert aus Mügeln veröffentlicht, der den vorstehenden Beitrag von Frau Hedwig Teumer sehr gut ergänzt. Frau Schubert war in einem Oschatzer Betrieb dienstverpflichtet.

„Es war der 15. oder 16. April 1945 an einem Vormittag. Wir bekamen die Durchsage für den Raum Oschatz: Fliegeralarm - die Stadt Oschatz wird beschossen. Wer sich noch nach Hause durchschlagen kann, soll gehen. Wir schnappten unsere Fahrräder. Eine Kollegin und ich radelten los in Richtung Weinberg. Wir hatten Glück, die Panzersperre war noch nicht geschlossen, so daß wir raus konnten nach Mügeln. Doch wir hörten schon das Gebrumm der Tiefflieger. So sind wir schnell nach Altoschatz runter gefahren. Der Zug Oschatz - Mügeln 10.30 Uhr hielt da noch. Unvergessen für mich bleibt, daß der Lokführer fragte, ob wir mitfahren wollten. Es sollte nur eine kurze Fahrt werden. Gleich hinter Thalheim kamen sie, die berüchtigten Tommys und griffen den Zug an. Von beiden Seiten erfolgte Tieffliegerbeschuß. Eine Salve, ein Krachen und der Zug stand. Der Beschuß dauerte so lange, bis sich niemand mehr rührte. Wir hatten großes Glück, da wir gleich am Anfang aus dem Gepäckwagen flüchteten und über die Wiese rannten. Hinter Bäumen versteckt, konnten wir das schlimme Schauspiel Anflug und Beschuß beobachten. In das kleine Gehölz Thalheim hatten sich noch ein paar Reisende gerettet. Wenig später kamen Sanitäter. Sie versorgten die Verwundeten, der Lokführer war tot. Erst nach Stunden, am Nachmittag, sind wir auf Schleichwegen über die Dörfer zu Hause angekommen".
Nach einem Bericht in der OAZ vom 18. Mai 2004 soll es am 26. April 1945 dann noch einmal einen Tieffliegerangriff auf die Kleinbahn zwischen Naundorf und Schweta gegeben haben. Den Anwohnern soll sich auch dort ein Bild des Grauens mit toten Menschen und zerstörten Wagen geboten haben.
Nachdem im Laufe des 23. April die in Oschatz stationierten Wehrmachtseinheiten und Teile der Polizei die Stadt in Richtung Döbeln und Freiberg verlassen hatten, war Oschatz praktisch ohne Verteidigung. In der Nacht zum 24. April wurde der Befehl ausgegeben, dass Frauen und Kinder die Stadt sofort zu verlassen haben. In langen Zügen flüchtete ein großer Teil der Einwohner in Richtung Wermsdorf und Mügeln. In Kleinforst war das anders, da verließ keiner die Siedlung. Wie Frau Kohnen weiß, hatten aber einige Familien sicherheitshalber den Handwagen schon gepackt, wie z. B. ihr Nachbar Paul Pötzsch aus der 52 (Querstraße 2). Die Angst vor einen Beschuss und vor den Russen war damals sehr groß.
Frau Teumer erwähnte in ihrem Bericht auch die Beschaffung des Heizmaterials. Einige Aktionen sind im Gemeindebuch von Altoschatz festgehalten. Sie beginnen im November 1946. Der Gemeindeverordnetenvorsteher Alber stellte damals in Aussicht, dass in den nächsten Tagen mit dem Sprengen der Stöcke begonnen würde. Man brauchte sie also nicht von Grund auf zu roden, das war eine riesengroße Arbeitserleichterung.
Im September 1947 wurden der Gemeinde vom Sächsischen Forstamt Hubertusburg wieder Stöcke zugewiesen. Auch diese sollten gesprengt werden. Die FDJ, die Gemeindearbeiter und die Bevölkerung sollten am 21. September die Stücke zusammenlesen und aufladen. Die Gemeinde organisierte den Transport mit Pferdewagen und übernahm auch die Verteilung.
Im Januar 1948 war es der Gemeindeverwaltung nicht nur gelungen, Stockholz zu beschaffen, auch Rohbraunkohle konnte verteilt werden. Jeder Haushalt erhielt einen halben Zentner.
Im Mai 1948 erhielt die Gemeinde Stockholz aus dem Revier Collm. Diesmal wurden Parzellen an die einzelnen Einwohner vergeben. Jeder musste nun selbst das Roden der Stöcke übernehmen und auch den Transport.
Wir können uns die Schwere der Arbeit heute kaum noch richtig vorstellen. Zunächst die weite Anfahrt mit dem Handwagen. Dann musste der Baumstumpf erst einmal mit Spaten und Spitzhacke freigelegt werden. Mit Eisenkeilen und Axt wurde dann das Holz gespalten. Hungrig und kraftlos wird sich mancher mit der schweren Fuhre nach Hause geschleppt haben. Zum Glück gab es damals einen Unternehmer mit einer fahrbaren Kreissäge, der auch nach Kleinforst kam und das stärkere Holz gegen ein Entgelt zersägte.
Auch über das Ährenlesen und Kartoffelstoppeln erzählte Frau Teumer in ihrer Geschichte. Nach dem Krieg war der Hunger groß. So gab es auch Einwohner, die sich unerlaubt etwas Essbares von den Feldern holten. Um diesen Diebstahl zu unterbinden, wurde unmittelbar nach dem Krieg von der Gemeinde Altoschatz ein Flurschutz eingerichtet. Im Oktober 1945 stellte Bürgermeister März die Einwohner Fritz Lässig und Walter Riedel als Notpolizisten ein. Sie sollten abwechselnd den Tages- und Nachtdienst übernehmen. Als Verstärkung bekamen sie noch jeweils 3 x 2 Mann aus der Gemeinde dazu. Diese schlagkräftige Mannschaft sollte vor allem erst einmal die Zuckerrübendiebstähle an der Kleinbahnhaltestelle in Altoschatz/Rosenthal verhindern
Der Flurschutz wurde in den darauffolgenden Jahren fortgesetzt. Dazu gab es auch eine klare Anweisung des Kreisrates. Die Gemeinde legte für 1947 fest, dass jeden Tag 20 Mann zur Sicherung der Ernte ausschwärmen sollten. Es wurden 4 Trupps zu je 5 Mann gebildet. Alle Männer im Alter von 18 bis 55 Jahren konnten zu diesem Dienst herangezogen werden. Diese Tätigkeit wurde auch bezahlt.
Im Jahre 1948 begann der Flurschutz am 25. April und ging bis Ende November. Dazu waren insgesamt 6 Männer, nämlich 4 aus Altoschatz und 2 aus Thalheim, im Einsatz. Warum keine Kleinforster dabei waren, ist nicht bekannt. Alle Männer im Alter zwischen 18 und 55 Jahren hatten zur Finanzierung der Aktion monatlich 1 RM zu zahlen. Den Rest mussten die Landbesitzer begleichen.
Auch im Jahre 1949 setzte sich diese Aktion fort. Diesmal wurde im Gemeindebuch ausführlicher darauf eingegangen:

„Obwohl sich die wirtschaftlichen Verhältnisse spürbar verbessert haben, muß mit Rücksicht auf die Sicherung der Ernährung der Bevölkerung die von Seiten der Landesregierung und des Kreisrates angeordnete Einführung des Flurschutzes durchgeführt werden. Mit Rücksicht auf die allgemeine angespannte Finanzlage kann ein bezahlter Flurschutz nicht eingeführt werden, sondern man müsse zur sogenannten Reihenwache übergehen, wonach alle männlichen Personen im Alter von 18 bis 60 Jahren verpflichtet sind, sich daran zu beteiligen. Außerdem wird als besoldeter Flurschützer Herr Johannes Heinig eingesetzt.“

Trotz der recht umfangreichen Maßnahmen kam es immer wieder zu Diebstählen. Wer dabei erwischt wurde, hatte sofort ein Gerichtsverfahren am Hals und musste mit einer hohen Strafe rechnen. Die Leipziger Volkszeitung berichtete z. B. am 25. August 1948, dass sich 16 Männer, Frauen und Jugendliche wegen des Vergehens gegen die Ernteschutzverordnung vor dem Oschatzer Schnellgericht zu verantworten hatten. Und am 2. September stehen schon wieder neun Felddiebe vor dem hohen Gericht. Mit dem Strafmaß war man damals nicht kleinlich. Für 5 Kilo Schoten vom Feld gab es 2 Wochen Gefängnis, für 40 Pfund Möhren und Beerenobst aus einem Garten 3 Monate! Auch für den Hunger gab es im Strafmaß kein Erbarmen: „Charlotte Biedermann aus Oschatz konnte an einem Mohnfeld nicht vorübergehen, ohne sich ein Säckchen Mohn mitzunehmen. Ihre Notlage wurde berücksichtigt, so daß sie eine Woche Gefängnis erhielt.“
Um die Ernährungssituation in dieser Zeit etwas deutlicher zu machen, soll abschließend noch ein Bericht des Ernährungsausschusses der Gemeinde Altoschatz vom Januar 1948 folgen:
„Die Aufgaben des Ausschusses waren sehr schwierig. Herr Lehmann dankte allen Bauern, die ihr Ablieferungssoll trotz schlechter Ernte 100 % erfüllt haben. Ferner erteilte er denen eine Rüge, die unverantwortlich gehandelt haben und Kartoffeln versteckten. Trotz der durchgeführten Kontrollen war es nicht möglich, die gesamte Bevölkerung mit Einkellerungskartoffeln zu versorgen. So war es notwendig, daß von der SMA der Befehl 248 herausgegeben werden mußte, auf Grund dessen die landwirtschaftlichen Erzeugnisse restlos abgeliefert werden mußten, so auch die Saatkartoffeln. Um jedoch die künftige Saat sicherzustellen, sind mit Mecklenburg Verhandlungen aufgenommen worden, um im Austausch mit Vieh Saatkartoffeln zu beschaffen. Die Tätigkeit des Ernährungsausschusses erstreckte sich auch auf die Beseitigung des Schwarzhandels und der Kompensationsgeschäfte.“

Frau Teumer erwähnt in ihrem Bericht auch, dass nach Kriegsende von der sowjetischen Militäradministration wichtige Entscheidungen durch Anordnungen geregelt wurden. So mussten z. B. in den ersten Tagen nach Kriegsende alle Radios abgeliefert werden. Aber erst nach Jahren bekam man von der Deutschen Post wieder eine Genehmigung zum Aufstellen und Betreiben eines Rundfunkempfängers. Die Familie Heinz Kohnen z. B. erhielt diese erst 1948 und auch nur zum Kauf eines sogenannten Drahtfunkempfängers. Diese Geräte waren nur für den Empfang von 2 festeingestellten Sendern eingerichtet und hatten deshalb auch nur 2 Tasten zum Umschalten von Mittelwelle Leipzig auf Langwelle Königswusterhausen. Mehr Information war damals in der sowjetischen Besatzungszone nicht erwünscht und „Schwarzhören“ war strafbar!



Manfred Hennig
Kleinforst in den letzten Monaten des Krieges und die Nachkriegszeit

1944 und 1945 wurden immer mehr Jugendliche zum Kriegsdienst eingezogen. Die Geburtenjahrgänge 1928 und 1929 wurden die sogenannten Kampfreserven, die zum Reichsarbeitsdienst und in Wehrertüchtigungslager einrücken mussten. Diese jungen Leute waren damals zwischen 15 und 16 Jahre alt und standen noch in der Lehre. Da denkt man heute noch mit Entsetzen darüber nach.
Auch für uns Jüngere wurde der Dienst im Jungvolk immer härter. Zum Programm gehörte jetzt auch das Schießen mit dem KK-Gewehr. Ich erinnere mich auch noch daran, dass wir Pfingsten 1944 nach Meißen und zurück marschieren mussten. Da waren wir vom Jahrgang1932 gerade einmal 12 Jahre alt!
Weil die Bombenangriffe der Alliierten auf die Großstädte und Industriegebiete immer häufiger wurden, nahm auch die Angst in Kleinforst immer mehr zu, denn Oschatz war eine nicht unbedeutende Garnisonsstadt des Heeres und der Luftwaffe. Würden uns auch eines Tages die Bomben treffen? Die Häufigkeit des Fliegeralarms nahm zu und die vorgeschriebenen Luftschutzmaßnahmen mussten strengstens eingehalten werden. Bei Dunkelheit wurde vom Luftschutz die Verdunkelung der Fenster genau kontrolliert.
Auch wir Jugendlichen wurden für die Arbeiten im Luftschutz mit eingesetzt. Die Organisation des Luftschutzes lag in den Händen eines Luftschutzwartes. Auf den Feldern des Berggutes in Richtung Naundorf und rings um Oschatz herum wurden Schützengräben für den Verteidigungsfall ausgehoben. Die Situation war angespannt.
Eines Tages waren sie dann plötzlich da, die Jagdbomber der Amerikaner und Engländer. Sie knöpften sich zielgerichtet die Messerschmidt-Jagdflugzeuge auf dem Fliegerhorst vor und zerschossen diese im Tiefflug zur Unbrauchbarkeit. Keine Maschine geriet dabei in Brand, da sie alle unbetankt waren. Dieser Angriff fand am helllichten Tage statt und wir konnten das Spektakel aus der Ferne beobachten.
In den letzten Apriltagen 1945 tauchten dann Jeeps mit amerikanischen Soldaten auf. Die Verteidiger aus den Schützengräben waren längst verschwunden. Die hauptsächlichste Amtshandlung der Amerikaner in der Gemeinde Altoschatz bestand darin, die Abgabe von Waffen und Munition zu überwachen. Dazu gehörten auch die Fahrtenmesser des Jungvolkes. Um nicht unangenehm aufzufallen, schlugen wir zuvor die Rune aus dem Handgriff heraus.
Am 7. Mai 1945 hieß es dann, die Russen kommen. Mit mehreren Einspänner-Pferdewagen, den typisch russischen Panjewagen, bezog eine Einheit Rotarmisten Quartier in Kleinforst. An meine erste Begegnung mit den Russen erinnere ich mich noch genau. Ich lag gerade im Bett, als mir zwei Soldaten lächelnd die Hand reichten. Ich zitterte vor Angst.
Bei uns zu Hause machten die Russen die Wohnküche zur Friseurstube. Ein Panjewagen mit dem Sergeanten quartierte sich bei Minna und Otto Küttner ein (Paul-Schuster-Straße 12). Gut, dass beide durch ihre Arbeit auf dem Postgut Oschatz schon Erfahrungen mit russischen Soldaten gemacht hatten, die dort als Kriegsgefangene arbeiten mussten. Dadurch kannten sie deren Mentalität. Minna Küttner war eine resolute Person, die sich Respekt verschaffen konnte. Ihr ist es sicherlich mit zu verdanken, dass es zu keinen Übergriffen kam.
Eine Respektsperson war auch der Kommunist Fritz März. Der Kleinforster hatte nach Kriegsende den Bürgermeisterposten übernommen. Er leistete besonders Hilfe, als nach der Fronttruppe andere Rotarmisten den Einwohnern an die Jacke wollten. Für sie war jeder Deutsche erst einmal ein Faschist.
Von den Lehrern wurde März Fritze zu Hilfe gerufen, wenn von uns Achtklässlern die Streiche und das große Maul zu happig wurden. Besonders die Neulehrer hatten da ihre Probleme mit uns. In solchen Fällen musste der Sünder meist vor die Tür des Klassenzimmers und dort bekam er entweder eine Standpauke unter vier Augen oder die lockere Hand von Fritz März zu spüren.
Nach Kriegsende wurde auch die Durchsetzung der Bodenreform in der Gemeinde Altoschatz beschlossen. Als auf das Berggut gezogen wurde, um Herrn Kästner seine Enteignung mitzuteilen, gab es eine sehr geteilte Stimmung unter den Anwesenden. Nicht alle waren damit einverstanden und es gab auch noch danach persönliche Meinungsverschiedenheiten über viele Jahre hinweg.



Rosemarie Pirl
„Reiche-Kuttel“

In den 30er Jahren war das Haus Nr.1 unter dem Namen „Schreckensburg“ bekannt. Mit dieser umgangssprachlichen Bezeichnung wurden die Zustände, die sich im Haus abgespielt haben müssen, beim Namen genannt. Angeblich soll es dort drunter und drüber gegangen sein.
Einer der Bewohner war „Reiche-Kuttel“, der sich sehr oft bei „Schnapps-Lochmann“ in Oschatz einen hinter die Binde goss. Für den Rückweg hatte er meistens noch einen „Flachmann“ in der Hosentasche, dessen Inhalt er bis nach Hause auch noch ausgekuttelt hatte. In solch einem Zustand stimmte er auch seine Sauf- und Wanderlieder an. Man konnte ihn bereits hören, wenn er kurz vor Kleinforst am Stadtparkweg auftauchte. Ich war damals noch Kind, aber eine Strophe ist mir noch in Erinnerung geblieben:

„Du lieber Mond, wenn ich dich sehe,
da hab ich meine Plage.
Du bist im Jahr nur 12 mal voll
Und ich bald alle Tage!“

Für uns Kleinforster Kinder war das immer ein Heidenspaß, wenn „Reiche-Kuttel besoffen auftauchte. Wir liefen neben ihm her und amüsierten uns über ihn. Er ließ sich das alles gefallen, ohne böse zu werden. Wenn er richtig voll war kam es auch schon einmal vor, dass man ihn von der Straße auflesen musste.



Monika Kohnen
Die verkannte Vogelscheuche

Neben uns, im Haus Nr.44 (Paul-Schuster-Straße 7), wohnte die Familie Fuhrmann.
Herr Fuhrmann sah furchtbar schlecht. Meine Mutter hatte im Garten Erbsen gesteckt und wegen der Vögel eine Vogelscheuche aufgestellt.
Eines schönen Tages, meine Mutter war gerade im Garten beschäftigt, kam Herr Fuhrmann am Zaun entlanggelaufen. Er schaute immer wieder die Vogelscheuche an und dann auf meine Mutter. Irgend etwas konnte er gar nicht begreifen. Und dann sagte er plötzlich: „Frau Kohnen, jetzt wo ich sie sehe, wird mir einiges klar. Ich habe sie jeden Tag gegrüßt und mich gewundert, dass sie nicht danken. Ich dachte schon, sie hätten etwas gegen mich. Jetzt sehe ich sie im Garten und begreife, dass ich jedes mal ihre Vogelscheuche gegrüßt habe.
Über diesen Irrtum haben wir damals herzlich gelacht und mir geht es heute noch so, wenn ich daran denke.

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