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Teil I, II, III, IV, V, VI, VII, VIII, IX, X, XI, XII, XIII, XIV, XV, XVI, XVII, XVIII

© Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Martin Kupke dürfen Teile aus der im Jahre 2000 erschienenen Dokumentation „Die Wende in Oschatz“ hier wiedergegeben werden. Das Bildmaterial stammt aus dem Archiv von Eckhard Thiem, Großböhla.

Bürgerforum am 21. Februar 1990, 18 Uhr im Kino
Thema: „Parteien stellen sich vor“

Das Kino war halb gefüllt. Einleitend sagte ich: „Heute geht es um die Vorbereitung der Volkskammerwahlen. Die Vertreter der Parteien werden kurz sagen, was das Besondere an ihrem Programm ist und worin sie sich von den anderen Parteien unterscheiden. Die Zuhörer haben dann Gelegenheit zu Rückfragen. Am 5. März werden sich hier die Kandidaten für die Wahl vorstellen. Am 12. März soll es Informationen zum Wahlverfahren geben. Das sind bis zu den Wahlen am 18. März noch drei Großveranstaltungen, die Ihnen helfen sollen, entscheidungsfähig zu werden. Bis zur Volkskammerwahl führen wir keine Montagsrunde mehr durch, weil die Wahlvorbereitung jetzt am wichtigsten ist. Freie Wahlen gab es in unserem Jahrhundert wenige. Nach dem Sturz des deutschen Kaiserreiches kam es am 19. Januar 1919 zu Wahlen für die Nationalversammlung. Sie leiteten die Weimarer Republik ein. Ihre demokratischen Chancen wurden damals leider nicht genutzt. Deutschland war noch nicht demokratiefähig. Die Wahl des Reichspräsidenten war am 26. April 1926. Nach dem Tode Friedrich Eberts wurde der alte Generalfeldmarschall von Hindenburg gewählt. Das war eine verhängnisvolle Wahl; denn dieser politisch unfähige General berief am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler. Hitler war die üble Spätfolge einer früheren falschen Wahlentscheidung. Eine Neuwahl des Deutschen Reichstages gab es am 14. September 1930. Dabei wurde die NSDAP bereits zur zweitstärksten Partei in Deutschland. Vor der Wahl am 5. März 1933 wurde von dieser Partei angekündigt, dass dies die letzte Wahl sei, dann gäbe es nur noch die NSDAP. Trotz dieser Ankündigung wurde diese Partei gewählt. Das deutsche Volk entschied sich durch die Wahl für die braune Diktatur. Deutschland wurde also nicht zum Opfer eines üblen Geschickes, sondern einer falschen Wahlentscheidung. Das erzähle ich Ihnen, um Ihnen die Wichtigkeit von Wahlentscheidungen deutlich zu machen.
Das Anliegen des heutigen Abends ist es, die Unterschiede in den Parteiprogrammen zu erkennen. Hoffentlich gelingt es. Ich bitte die Parteien, sich konkret dazu zu äußern, wie sie sich die Bindung Deutschlands an die Militärblöcke vorstellen. Da mussten wir ja das vorige Mal abbrechen. Außerdem bitte ich die PDS und die SPD, sich zur Idee des Sozialismus zu äußern. Darüber möchten die Wähler Bescheid wissen. Im vorläufigen Statut der SPD § 2 lesen wir nämlich:
,Die SPD steht den Traditionen der europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten nahe.‘ Was heißt das? Dies bitte ich zu interpretieren.
Wenn sich nun die Parteien vorstellen, bitte ich darum, den Wahlkampf nicht zur Schlammschlacht werden zu lassen. Ich denke, wir müssen nicht alles vom bundesdeutschen Wahlkampf übernehmen. Bemühen Sie sich also um faire Auseinandersetzungen.
Die Parteien stellen sich in alphabetischer Reihenfolge vor. Wir beginnen mit der CDU, die mit der DSU und dem DA als ,Allianz für Deutschland‘ ein Wahlbündnis eingegangen ist.“
Herr Mühlberg, CDU: „Wir wollen die soziale Marktwirtschaft, wie sie sich in der BRD bewährt hat. Nur diese Wirtschaftsform ist in der Lage, unseren Menschen eine Zukunft zu geben. Wir wollen keine neuen Experimente mit dem gescheiterten Sozialismus. Wir haben es satt, unsere Arbeitskraft zu verschleudern. Nur durch eine gesunde Wirtschaft sind soziale Leistungen möglich. Wir haben endlich ein Ziel vor Augen: Jede Menge Arbeit und keiner braucht vor der Zukunft Angst zu haben. Die Allianz will im geeinten Deutschland eine gesicherte Zukunft für die Menschen schaffen. Die CDU hat sich von unten nach oben erneuert. Sie ist die erste Partei, die aus dem Block ausgetreten ist. Wir bewahren uns den realen Blick für das Machbare. Nationalsozialismus, real existierender Sozialismus, extrem rechts und links führten uns ins Verderben. Wir sind die Mitte.“
Pfarrer Zehme: „Wie ist es mit dem ,C‘ im Namen?“
Herr Mühlberg: „In der Vergangenheit war die Partei sehr politisch. Für die Kirche hat sie zu wenig getan. Aber sie hat sich erneuert und ist offen für die Christen. Zukünftig will sie die Kirche mehr unterstützen.“
Herr Sachse, NF: „Warum übernimmt die CDU soviel vom Westen, obwohl das System der BRD nicht der Weisheit letzter Schluss ist?“
Herr Mühlberg: „Wir werden jetzt einen gewissen Stillstand erleben, aber dann kommt die Belebung.“
Frau R. Müller, Protokollantin: „Die CDU könnte sich bei der Sanierung der Aegidienkirche engagieren, da die Kirche die Bauaufgaben allein nicht bewältigen kann.“
Frage aus dem Publikum: „Wie sieht die CDU das Volkseigentum?“
Herr Mühlberg: „Dazu kann ich keine Antwort geben, noch ist alles unklar, wir müssen abwarten.“
Herr Müller, DBD: „Wir wollen alle Bürger erreichen, die sich mit dem Land und der Natur verbunden fühlen. Die großen Produktionseinheiten sind zu verkleinern. Spezialbetriebe sollen bleiben. Die Agrarproduktion soll auf möglichst natürliche Weise erfolgen. Die Dörfer sollen entwikkelt werden. Wir sind für einen sanften Tourismus, für ein freies Sachsen und für freie Bauern. Die NATO und der Warschauer Vertrag sollten aufgelöst werden. Wir sind für Religionsfreiheit und bereit, mit der Kirche gemeinsam Aufgaben zu lösen, z.B. auf ökologischem Gebiet.“
Frau Schanze, Dahlen: „Ich glaube nicht, dass ich meinen Arbeitsplatz in der Sauerkrautfabrik der LPG Dahlen behalten kann. Ich habe sechs Kinder. Vor 25 Jahren habe ich ein altes Bauernhaus ausgebaut. Wie unterstützt mich die DBD bei der Erhaltung meines Hauses, da sich bereits Erben aus der BRD gemeldet haben?“
Herr Müller: „Wir sind für die Beibehaltung der Eigentumsverhältnisse. Im Zuge der Wiedervereinigung müssen klare gesetzliche Regelungen getroffen werden. Eventuell müssen Alteigentümer Abfindungen erhalten. Da sind Grundsatzentscheidungen nötig.“
Dr. Kupke: „Bei uns sind in der Landwirtschaft doppelt so viele Arbeitskräfte beschäftigt wie in der BRD. Was soll zukünftig mit den überschüssigen 50% geschehen?“
Herr Müller: „Arbeitslose müssen über ein soziales Netz abgefangen werden. Auch die Vorruhestandsregelung wird in der Landwirtschaft eine wichtige Rolle spielen. Das Durchschnittsalter ist hoch und viele Rentner sind noch tätig.“
Frau Wiedner, Börln: „Wenn Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft umgeleitet werden, wie steht es da mit ihrer Mitgliedschaft in der LPG?“
Herr Müller: „Die Mitgliedschaft bleibt bestehen.“
Pfarrer Müller, Katholische Kirche : „Wie ist es mit dem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft? Werden wir Mitglied? Wird es für unsere Landwirtschaft schwer?“
Herr Müller: „Wir wissen, dass schwerwiegende Probleme auf uns zukommen. Auch die bisherige DDR müsste sich für Flächenstillegungen entscheiden. Wir müssen wesentlich billiger produzieren und eine wesentlich höhere Qualität erzeugen.“

In alphabetischer Reihenfolge stellten sich die Parteien nun weiter vor. Die Grünen waren nicht anwesend, da ihre Gründungsversammlung noch bevorstand.
Herr Krause, LDPD: „Der Mittelstand wird maßgeblich am Wirtschaftswunder beteiligt sein, wenn es zur freien Entfaltung des einzelnen Menschen kommen wird. Besonders ist auf die Ökologie zu achten, denn wir Menschen brauchen die Erde.“
Herr Hiemann, SPD: „Ich möchte Sie daran erinnern, dass die LDPD die Politik der SED 40 Jahre lang mitgemacht hat.“
Frage aus dem Publikum: „Wann soll die Vereinigung stattfinden, was wird mit dem Volkseigentum?“
Herr Krause: „Die Vereinigung sollte so schnell wie möglich kommen, aber wir dürfen nichts übers Knie brechen.“
Herr Sachse, NF: „Sie wollen hauptsächlich Handwerker und Kleinbetriebe in ihrer Partei vereinen?“
Herr Krause: „Wir sind für alle offen.“
Herr Claus, NDPD: „Wir wollen für alle Partner sein, die sich für Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, die deutsche Einheit, für die soziale Marktwirtschaft und für die sozial Schwachen einsetzen. Die NDPD ist für die Gleichberechtigung der Frauen, ein starkes Bürgertum, die Absicherung der Angestellten.“
Frage aus dem Publikum: „Geht die NDPD ein Bündnis mit der PDS ein?“
Herr Claus: „Nein.“
Frage. „Was wird aus den Kinderkrippen, den Kindergärten, der Ausbildung der Jugendlichen?“
Herr Claus: „Diese Probleme müssen im Rahmen der Marktwirtschaft mit erfasst werden.“
Dr. Kupke: „Was soll aus den militärischen Blöcken werden?“
Herr Claus: „Sie sollen außer Kraft gesetzt werden.“
Frage: „Was ist freie Kultur in Oschatz?“
Herr Claus: „Kultur ist in die Marktwirtschaft eingebunden. Wenn sie wirksam wird, werden dafür Kräfte und Mittel vorhanden sein.“
Herr Sachse, Neues Forum: „Ich spreche für das Wahlbündnis zwischen dem Neuen Forum und der Bewegung ,Demokratie jetzt‘, sowie für die Initiative ,Frieden und Menschenrechte‘. Das Bündnis 90 will sich von den Parteien durch Bürgernähe unterscheiden. Wir sind für die Einheit der deutschen Nation, aber nicht zu Lasten der DDR-Bürger. Der Wahlkampf soll nicht wie in der BRD angeheizt werden. Keine Partei kann die vor uns liegende Arbeit allein übernehmen. Wir wollen nicht die Macht, wir wollen Verantwortung übernehmen.“
Herr Simon: „Ich möchte dem Neuen Forum für die bisher geleistete Arbeit meinen Dank sagen. Im übrigen bin ich der Meinung, die Einheit Deutschlands muss ganz schnell kommen, damit nicht noch mehr Menschen die DDR verlassen.“
Herr Bönisch, Neues Forum: „Wir können nicht einfach die Grenzen beseitigen. Schrittweise müssen erst die Währungs- und Wirtschaftsunion kommen.“
Herr Symank: „Ich frage das Neue Forum, wie Betriebsräte und Gewerkschaften in den Betrieben zu bilden sind, da dort bereits die Wirtschaftsbosse aus der BRD tätig sind.“
Herr Sachse: „Das Bewusstsein für starke Gewerkschaften und Betriebsräte ist noch nicht vorhanden. Gewerkschaften aber müssen von unten organisiert werden.“
Herr Becker, PDS: „Die PDS ist eine neue Partei, die sich zu ihrer Verantwortung bekennt und einen Bruch mit der alten SED vollzogen hat. Die jetzigen Mitglieder sind nicht in der Partei, um Vorteile zu haben. Auch ich möchte dem neuen Forum und den Bürgerinitiativen für ihren Einsatz danken. Die PDS ist für die Vereinigung durch Zusammenwachsen. Die Verfassung der BRD muss man diskutieren. Der Sozialismus ist in Theorie und Praxis gescheitert. Wir bekennen uns zu einem demokratischen Sozialismus. Und nun zu den Militärblöcken: Ein geeintes Deutschland sollte sich von den Blöcken verabschieden. Wir sind für die umfassende Abrüstung.”
Zwischenruf: „Die BRD wird von Euch immer schwarz gemalt. Die Blomberger haben vorige Woche dargelegt, dass es in der BRD mehr Sicherheit gibt als bei uns.“
Herr Mühlberg: „Ich möchte Sie fragen, ob die Absicht besteht, dass sich PDS und SPD vereinigen? Beide Parteien haben ähnliche Programme.“
Herr Becker: „Nein. Es gibt in der SPD auch keine ehemaligen Genossen.“ (protestierende Zwischenrufe)
Dr. Kupke: „Wie beurteilen Sie für die Zukunft den Privatbesitz an Produktionsmitteln?“
Herr Becker: „Der Sozialismus ist gescheitert. Privateigentum zur Stimulierung der Wirtschaft wurde bisher unterschätzt. Unsere Wirtschaft gibt langsam die Selbstachtung auf. Wir haben runtergewirtschaftet – trotz guter Leistungen und noch immer guter Außenhandelsbeziehungen.“
Dr. Kupke: „Und was wird nun aus dem Sozialismus werden?“
Herr Becker: „Die PDS ist für einen demokratischen Sozialismus, wobei eine exakte Definition nicht so einfach ist. Wir bekennen uns zum Gemeineigentum, zur Mitbestimmung der Werktätigen, zur Vertragsgemeinschaft mit der BRD.“
Frau Müller, SPD: „Ich bin hier die einzige weibliche Wahlkämpferin. Die SPD will eine schnelle Vereinigung Deutschlands. Sie soll unter Berücksichtigung der Interessen der europäischen Nachbarn kommen, unter Anerkennung der polnischen Westgrenze, der Minimierung der Arbeitslosigkeit und der Absicherung der Menschen. Die Währungsunion brauchen wir so schnell wie möglich – gut vorbereitet. Grund und Boden müssen gesichert sein. Wir sehen die sozialen Ängste und wollen den Schwächeren und Ärmeren helfen. Das Leistungsprinzip ist die Voraussetzung für die Wirtschaft. In den Betrieben darf keine Konzeptionslosigkeit bestehen. Betriebsvertreter sollten sich in westdeutschen Betrieben umsehen. Wenn ein Leiter diesen Prozess nicht mittragen will, soll er den Hut nehmen. “
Dr. Kupke: „Unterscheidet sich die SPD der DDR von der SPD der BRD?“
Frau Müller: „Ja. Wir haben 40 Jahre realen Sozialismus erlebt, jetzt wollen wir einen demokratischen Sozialismus.“
Herr Kamilli, Bezirksvorsitzender der SPD: „Vom bisherigen Sozialismus distanzieren wir uns grundsätzlich. Das Wort ,Sozialismus‘ möchten wir eigentlich vermeiden. Es kann nur eine Umsetzung in Rechtsstaatlichkeit geben, abgesichert durch die Marktwirtschaft. Der Arbeitslosigkeit muss durch Schaffung neuer Arbeitsplätze und durch Umschulung begegnet werden.“
Es brach dann eine heftige Diskussion zwischen den verschiedenen Parteien um die Mitgliedschaft von SED-Genossen in der SPD aus. Herr Kamilli ließ sich zu unsachlichen Äußerungen hinreißen, was mit Pfiffen und Tumult quittiert wurde. Er musste sich entschuldigen. Kritisiert wurde, dass die Litfaßsäule von der SPD rücksichtslos beklebt wird.
Herr Sirrenberg: „Mit wem würde die SPD koalieren, wenn sie Wahlsieger wäre?“
Herr Kamilli: „Die SPD hat sich gegen die PDS abgegrenzt. Mit allen anderen Parteien könnten wir koalieren; denn nur in der Koalition sind die Aufgaben zu lösen, die vor uns stehen.“
Dr. Kupke: „Gibt es noch einen Vertreter einer Partei, die noch nicht genannt wurde?“
Dies war nicht der Fall.
Herr Köhncke: „Ich möchte noch darüber informieren, dass sich eine Arbeitsgruppe mit dem NVA-Objekt befasst hat und zu dem Ergebnis kam, dass sich dieses Objekt nicht zum Krankenhaus umfunktionieren lässt. Man könnte allerdings die Medizinische Fachschule darin unterbringen.“



Aufkleber der DA / DSU / CDU


Rückseite des Schreibens der NDPD (sh. unten)
Die LDP war zusammen mit der NDPD im Bund Freier Demokraten (BFD)

SPD CDU

Fortsetzung


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